10.06.2020
Annette Rosenstock
DIE MUTTER:

Mein Sohn „liebt“ Corona – Das Leben eines 14-jährigen in Quarantänezeiten
Mein Sohn lebt gern in Quarantäne. Seit Corona darf er seinem eigenen Biorhythmus folgen und das Frühstück einfach auslassen. Das Zimmer ist sein intimer Ort und selbstgewählter Lebensmittelpunkt und das gerne für länger. Während Corona draußen sein Unwesen treibt und der Rest der Bevölkerung diskutiert, wann es endlich zu Lockerungen der Quarantäne kommt, genießt mein Sohn die Möglichkeit, sich ungestört in seine ureigenen Gedankenwelten zu vertiefen. Fernab von banalen Äußerlichkeiten und sonstigen Vorschriften zum Ordnung halten und Zimmer aufräumen, gestaltet er seinen unmittelbaren Lebensraum nach seinen Gesetzmäßigkeiten. So müssen geliebte Gegenstände von der Schaltzentrale „Bett“ aus gut erreichbar sein und sichtbar ausgelegt. Der Fußboden gleicht einem Sammelsurium von Dingen, die sonst in Kisten und Schränken verstaut sind. Unsere Mutter-Kind Beziehung wird hauptsächlich genährt durch die Akzeptanz der Privatsphäre des anderen und das Bedürfnis nach Rückzug in eigene Welten.

Mein Sohn kommt gut ohne Schule zurecht. Der Fernunterricht versetzt ihn gering bis gar nicht in Stressschwingungen, denn die Lehrer sind nur virtuell und das ist gut so. Er investiert lieber Zeit in seine Vision von Zukunft als Filmemacher. Er schreibt an einem Drehbuch für einen neuen Film und kommuniziert digital mit anderen Filmbegeisterten. Er lernt Englisch um sich später als Filmemacher auch international behaupten zu können und nimmt an Coachingseminaren von Hollywoodlegenden teil.

Eine unausgesprochene Regel zwischen uns besagt, dass die Privatsphäre jederzeit durchbrochen werden darf, um den anderen mit teils banalen Fragen (z.B. „Was essen wir heute?“) kurzzeitig aus seiner Gedankentrance zu reißen. Damit beugen wir der Isolation vor. Weitreichendere Themen werden allerdings in einer täglichen Philosophenrunde am Abend außerhalb unserer Komfortzonen am sogenannten Katzentisch in der Küche behandelt. Hier sitzen wir leicht erhöht auf unseren Barhockern und tragen mit dem Gefühl von Durchblick und einem gewissen Abstand vom Tagesgeschehen dem anderen unsere Gedanken und Lichtblicke vor. Im Anschluss daran verbringt mein Sohn Zeit mit seiner Großmutter. Bei kleinen, eher lockeren Gesprächen und diversen gedanklichen Ausschweifungen in vergangene Zeiten erweist er sich als geduldiger Zuhörer und tankt seine Batterien auf. Das Fertigstellen eines 1000er Puzzles erweist sich ebenfalls als Entspannungstraining. Wenn er dann frohgemut und unbeschwert zurückkehrt, wird mir eines zur Gewissheit, was ich kaum auszusprechen wage: Er genießt sein Leben und seine Beziehungen trotz Corona in vollen Zügen.

DER SOHN:

Meine Mutter „hasst“ Corona - Das Leben einer 55-jährigen im Homeoffice Für meine Mutter kommt Corona unpassend. Corona bringt alles durcheinander, weil sie von heute auf morgen nicht mehr früh aufstehen muss. Sie ist nicht systemrelevant und arbeitet im Homeoffice. Darüber ist sie erstmal traurig. Bis vor kurzem war sie noch am Rotieren in ihrem Job. Da hat sie geschimpft und geflucht am Nachmittag und wir haben über schönere Themen gesprochen, wie Urlaub oder Freizeit. Jetzt hat sie ein Ikeatischbüro zuhause und hat viel mehr Zeit und weniger Stress. Wenn wir uns treffen oder spazieren gehen, reden wir meistens philosophisch über den Sinn des Lebens.

Wenn sie meine Meinung dazu hören will, drehe ich jeden ihrer Sätze um und mache aus einer schlimmen Nachricht eine gute. Das erstaunt sie sehr! Dabei könnte sie auch begeistert sein, weil sie jetzt viel Freizeit hat und endlich ohne Störung ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen könnte, die da sind: Lesen, Klavier spielen, Gambe spielen, Malen, Gedichte und Texte schreiben, sich um Tiere und Pflanzen kümmern, Wandern und Rad fahren, Zeit mit ihren Kindern verbringen, gemeinsam kochen, sich mit ihrem Freund treffen und lange Diskussionen und Streitgespräche führen…

Ich glaube sie träumt auch von ihrer Zukunft, aber anders als ich. Auf jeden Fall denkt sie viel darüber nach, was sie wirklich gerne macht und warum das nicht „systemrelevant“ ist, was das Wort überhaupt bedeutet und warum es für sie eher ein Unwort ist. Sie schreibt ihre Gedanken auf. Das finde ich gut, weil mir das schwerfällt. Dann können wir in ein paar Jahren nachlesen, wie wir uns gefühlt haben und dann wird sie vielleicht sagen, dass sie die Coronazeit auch genossen hat, weil sie erforschen konnte, was sie glücklich macht und weil wir viel über den Sinn des Lebens nachgedacht haben.