Er leitete "Ärtze ohne Grenzen" und schrieb nun einen aufwühlende Augenzeugenbricht
Felix EhringLena Uphoff
14.11.2011

Irritierend langweilig ist der Titel dieses Buchs. Doch dahinter verbirgt sich ein spannender Bericht, der so mitnimmt, dass man ihn besser mit Pausen liest. Was der Arzt James Orbinski berichtet aus den gottverlassenen Winkeln der Welt, aus Somalia, Afghanistan, Ruanda und dem Kongo, macht sprachlos und lässt immer wieder den Kopf schütteln. Es ruft Abscheu hervor, Wut, Ekel, stellenweise Hass. Trotzdem ist es sehr lesenswert. Orbinski berichtet vom Sterben Tausender und davon, wie er inmitten von Gewalt und Elend versucht, Menschen mit ein paar Spritzen, Verbänden und anderem Notfallgerät am Leben zu halten.

Anfang der 1990er Jahre geht Orbinski nach Somalia, um im Bürgerkrieg die Gesundheitsstationen von „Ärzte ohne Grenzen“ zu organisieren. Er verhandelt mit Warlords und anderen korrupten Militärs, hört sich deren Zynismus an, bezahlt bis an die Zähne bewaffnete Sicherheitsleute und rast mit ihnen durch gesetzloses Gebiet. Er entgeht Granaten, Hinterhalten und den unglücklichen Zufällen, die andere Helfer das Leben kosten. Orbinski rettet mit seinen Kollegen viele Leben und sieht unzählige Menschen elend sterben. In Ruanda bekommen Verwundete nach einem Angriff Zahlen auf die Stirn. Die mit „eins“ oder „zwei“ werden behandelt, die mit einer „drei“ sind nicht mehr zu retten. Von Macheten verstümmelt, sterben sie noch schneller als viele andere, die von Krankheiten wie Cholera auslaugt werden, bis ihr schwaches Lebenslicht einfach erlischt.

Und weshalb tut niemand etwas dagegen? Orbinski schildert anhand mehrerer Beispiele die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, Menschen zu schützen und adäquat Hilfe zu leisten. Er kritisiert die gewissenlose Machtpolitik Frankreichs, das in Ruanda seine „Francafrique“-Strategie verteidigen wollte. Dafür erhielten die Völkermörder neue Waffen und Geleitschutz in den Kongo, wo das Drama weiterging. Man weiß das längst, aber aus erster Hand geschildert macht es noch wütender.

Der Autor zahlt selbst einen Preis für sein Engagement. Die Todesangst in Ostafrika, die leeren Augen der Vergewaltigten und Verstümmelten – zurück in Kanada gehen ihm die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Er lässt sich wegen einer posttraumatischen Störung behandeln. Später wird er Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“ und nimmt stellvertretend für die Organisation 1999 den Friedensnobelpreis entgegen. In der Dankesrede fordert er Russlands Botschafter auf, das Land solle aufhören, Tschetschenien zu bombardieren.

Wie verhält man sich also angesichts des Unrechts? In manchen Fällen hilft Orbinskis geduldige Diplomatie. Bei Milizenführern und Verbindungsoffizieren beharrt er auf der Einhaltung der Genfer Konvention zum Schutz von Flüchtlingen. Solch forsches Auftreten ist für ihn riskant, denn er hat es mit Verbrechern zu tun. Dennoch positioniert sich „Ärzte ohne Grenzen“ politisch, wo es geboten ist. Die Organisation sammelt Aussagen von Opfern und Augenzeugen, um Staaten oder die Vereinten Nationen zum Handeln zu bewegen. Denn die entscheiden opportunistisch. Und die Medien sind ihnen in den 1990er Jahren viel zu oft auf den Leim gegangen. Orbinski zeigt das. Sein Augenzeugenbericht ist lehrreich für alle, die die Kriege auf dem Balkan, in Ruanda und in Afghanistan am Bildschirm verfolgt haben.

 

James Orbinski
Ein unvollkommenes Angebot. Humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010, 415 Seiten, 19,95 Euro.

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