Konzentration, die richtigen Gloves und los geht´s!
Foto: Felix von der Osten
Tim Wegner
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Tim Wegner
Tim Wegner
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
10.10.2012

Das soll jetzt also Kirche sein. Auf einem Sportplatz in Alfter bei Bonn rennen 19 kleine Mädchen und Jungs einem Lederball hinterher. „Saints“ steht auf ihren roten und blauen Trikots, Heilige. „Saints“ heißt die Baseball-League der Kirchengemeinde. „Klong“ macht der Ball, als Matthias ihn trifft. Der Siebenjährige wirft den Schläger zu Boden und rennt los zur ersten Base. Pauline, 10, hat den Ball gefangen. „Der war aus“, brüllen die einen. „Nein, der war safe“, die anderen. Weiter geht’s. Klong, los­rennen. Out.

Der Trainer ist ein Pfarrer,  Andreas Schneider, 46, Baseballkappe und verspiegelte Sonnenbrille. Gemeinde am Kottenforst, eine von rund 15 000 evangelischen Kirchengemeinden in Deutschland. Ja, am Kottenforst wird auch gebetet, gesungen, konfirmiert, beerdigt und Gott gelobt. Gott loben werden wir noch viel auf dieser Reise von Bonn über Frankfurt nach Schwaben, über Sachsen-Anhalt nach Leipzig. Aber jetzt kann der liebe Gott erst mal Pauline loben. Die hatte vorher noch nie einen Schläger in der Hand und hat jetzt diesen Ball gehalten. „Beim Baseball kann jeder was“, sagt der Pfarrer. Dicke, die nicht schnell rennen können, haben vielleicht einen guten Schlag. Mädchen, die Fußball doof finden, können gut fangen.

Seit der Pfarrer Baseball spielt mit Kindern und Konfirmanden, kann er sich kaum retten vor Zulauf. Den Ballpark, das „Field of Dreams“, haben Eltern aus der Gemeinde selber gebaut. Manche Kinder sind katholisch, manche gehören keiner Kirche an. In den Spielpausen hören sie dem Pfarrer zu, der nicht nur gut Ball spielen, sondern auch gut erzählen kann. Von Jackie Robinson, der 1947 der erste schwarze Baseballspieler in der US-Major-League und sehr umstritten war. „In der Bibel gibt es viele Geschichten von Außenseitern“, sagt Schneider. „Einmal heilte Jesus einen Mann, der 30 Jahre gelähmt war. Menschen leiden darunter, wenn sie ausgeschlossen sind vom normalen Leben. Wir wollen darauf achten, dass keiner aus dem Team herausfällt.“ Eifriges Nicken.

Dass keiner herausfällt, dass nur ja keiner verloren geht, der Satz wird uns auf dieser Reise begleiten. Jetzt muss der Reisende allerdings erst mal aufpassen, dass er selber nicht zurückbleibt. Vom Rhein an den Main, hinunter ins Fränkische, steil bergauf geht es zu Fuß die letzten Meter zum ­Kloster Triefenstein. Blühende Gärten, eine klassizistische ­Kirche, moderne Werkstätten: Hier oben lebt die evangelische „Chris­tusträger-Bruderschaft“ nach den Idealen Armut, Ge­horsam und Ehelosigkeit.

Gäste werden von Bruder Gerd empfangen, er ist 50, Sanitär- und Novizenmeister. „Ich kümmere mich um die Installation von Wasserleitungen und von Gemeinschaftsgeist“, erklärt er in leichtem Fränkisch. Sportlicher Kerl, wache Augen. Wie kommt so einer ins Kloster? In den 70ern war er aktiv gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke. „Menschenketten, Mutlangen, Wackersdorf, ich war überall dabei.“ In der kirchlichen Jugendarbeit, in den Dritte-Welt-Gruppen entdeckte er die religiöse Seite an sich. Mit 25 trat er in Triefenstein ein.

Für die Eltern war es hart, er sollte doch das Sanitärgeschäft übernehmen. Statt von der eigenen Firma lebt er heute von 30 Euro Taschengeld. Im Kloster gefällt ihm „das hohe Maß an Verbindlichkeit. Zeit für Gott, drei Gebetszeiten am Tag, jährliche Exer­zitien. Das gehört zutiefst zu mir.“ Und: „Nicht nur ­reden. Was tun!“ In Triefenstein würde er am liebsten eine Holzheizung einbauen, um vom Öl wegzukommen. Erzählt’s und muss sich jetzt aber erst um die vielen jungen Leute der Jugendfreizeit kümmern.



Von der Klosteridylle mainaufwärts mitten in die laute Frankfurter City. Im Hof eines hellen Neubaus stellt Harald Breitenbach seine 500er BMW ab und öffnet den Helm. Es fällt schon auf, das fette Bike neben den vielen Fahrrädern, aber wenn man erst mal durch die Tür geht ins Evangelische Hospiz, ist es ziemlich egal, mit welchem Verkehrsmittel man gekommen ist. Hier verbringen Menschen die letzten Tage ihres Lebens. Und sie sind froh, wenn Menschen wie Breitenbach ihnen einen Tee kochen, dem Besuch die Tür aufmachen, helfen, wo halt gerade Hilfe gebraucht wird.

„Ich gehöre nicht zu diesen Gutmenschen, die am liebsten den Verzweifelten die Hand halten wollen. Ich gehe auch zu Aldi Zahnbürsten kaufen, wenn’s sein muss.“ Was tun will er, sich nützlich machen, obwohl er doch „total branchenfremd“ ist.

Seine Branche war das Investmentbanking, Frankfurt, London, Hongkong. „Früher war mein Leben schwarz-weiß. Kaufen, verkaufen, dazwischen gab es nichts. Jetzt kenne ich mehr Grau­töne.“ Fünf Stunden in der Woche schiebt er hier im Hospiz Schicht und fünf Stunden bei der Telefonseelsorge. Zeit hat er jetzt im ­Ruhestand, mit 63 ist er auch noch jung, „ich kann ja nicht den ganzen Tag auf dem Bock sitzen“. Zeit? Frau Berg-Heil, Pflegekraft im Hospiz, guckt zur Tür herein, sie weiß, was der ehren­amtliche Kollege damit anfangen kann. „Der Herr G. ist heute so unruhig. Vielleicht gucken Sie mal bei ihm vorbei?“ Alles klar.

Mit dem ICE von Frankfurt nach Ulm, knapp drei Stunden, Zeit zum Grübeln. Breitenbachs gibt es viele, könnten sich nicht noch mehr junge Alte engagieren im Ehrenamt? Zu tun gäbe es genug, aber jeder hat halt so viel mit seines Tages Plage zu tun. Schon biegt der Zug bei Jungingen in Richtung Ulm, und längst bevor er hält, ragt das Münster weit in den blauen Herbsthimmel. Was für ein Bauwerk! Höchster Kirchturm der Welt, größte evangelische Kirche Deutschlands. Man braucht keinen Stadtplan, um vom Bahnhof durch das Gewusel der Marktstände zu finden, durch all die roten Bodenseeäpfel, frischen Pfifferlinge und Maultaschen. Das Münster findet man immer. Geht durch die Tür und dann – dieses Licht! Wie ein Scheinwerfer strahlt die Sonne durch eine Fensterreihe oben am riesigen Hauptschiff die kleinen Menschlein unten an. „Da lächelt der liebe Gott in sein Haus herein“, sagt die schwäbische Reise­leiterin, und es lauschen Rentnerinnen mit feschen Wander­schuhen und Radfahrer im Renndress. Aber auch das ist evan­gelische Freiheit, und die Pfarrerin, selber schick in Kostüm und Pumps, sagt: „Wir sind hier eine Kirche für Reisende.“

„Tourismus-Seelsorgerin“ ist Tabea Frey, 47. Hört dem Rad­fahrer zu, der sie bittet, für sein krankes Kind eine Kerze an­zuzünden. Dem Mann, der um seine kaputte Ehe trauert. Auf Reisen, sagt Frey, passiert ganz viel, wenn man sich bewegt, dann bewegt sich was.

Die Pfarrerin weiß, dass der liebe Gott eben nicht immer durchs Fenster lächelt. Mancher Besucher fühlt sich erst recht durchleuchtet. „Das Münster kann Menschen auch bedrängen. Das Licht, die Weite!“ Dann stehen sie und ihre ehrenamtlichen ­Kolleginnen bereit, hören zu, beten, wenn gewünscht. Oder schreiben ihre Sorgen an eine Wand im Seitenschiff des Müns­ters. „Mach, dass ich das Gymnasium schaffe“, steht da mit ­Krakelschrift, und: „Ich möchte trotz meiner schlechten Noten nicht von der Schule fliegen.“ Kinder, sagt die Pfarrerin, seien neben Touristen ihre beste Kundschaft. „Unglaublich, wie viel Angst die vor der Schule haben.“

Mit Angst kann man gar nicht lernen, hat das nicht der Hirnforscher Manfred Spitzer rausgefunden, der um die Ecke vom Münster sein Uni-Institut betreibt? Angst brauchen unsere Kinder nicht, aber eine gute Schule, Lehrer mit Herz und Verstand. Reise ans andere Ende von Deutschland, in die Evangelische Schule in Neuruppin. Hier in der 4a kann man der Innovation beim Arbeiten zuschauen. Statt der Lehrerin unterrichten heute Schülerinnen aus der elften Klasse. Thema: ­Ang­lizismen im Deutschen. Campen, Skaten, T-Shirts – wer weiß dafür ein deutsches Wort? Nach 20 Minuten holen die Viertklässler ihre Hefte heraus und spüren ganz eigenständig  „Lernwörter“ in einem Kreuzwortgitter auf. Fast zwei Stunden arbeiten sie, ­jeder in seinem Tempo, jeder guckt selbst auf der Rückseite der Tafel nach der richtigen Lösung und setzt „ehrliche Häkchen“. Also kein Geschummel. Und kein Gequatsche. Eine Dreiviertelstunde nur das Kratzen der Füller. Dann lässt bei den Ersten die Konzentration nach, und Maria aus der 11. Klasse muss mit der Klangschale für Ruhe sorgen. „Manchmal ist es nicht einfach, sich durchzusetzen“, sagt die 16-Jährige.

Die Evangelische Schule in Neuruppin ist ein Labor für neue Unterrichtsformen, dafür hat sie dieses Jahr den Deutschen Schulpreis bekommen. In Englisch debattieren die Schüler wie im House of Commons, in Physik und Chemie reisen sie an die Unis und befragen Professoren. Später erklären sie staunenden Lehrern, was sie mitgebracht haben. Das alles in familiärer Atmosphäre, mit festen Ritualen und jeden Morgen Andacht. Dennoch sorgt sich Deborah aus der 4a um das Ansehen der Schule. „Sonst läuft es besser“, versichert sie, „sonst sind wir konzentrierter.“

Bleib locker, Deborah. Ihr macht das schon ziemlich gut in Neuruppin. Besonders gut wollen sie es halt machen, die Protestanten, und das wirkt schon mal besonders ehrgeizig. Dabei heißt evangelisch immer auch: Man muss keine Höchst­leis­tungen erbringen, um von Gott geliebt zu werden. Aber konsequent sein darf man schon. Seit 280 Jahren erscheinen die „Herrnhuter Losungen“ für die tägliche Bibellektüre. Heute gibt es sie längst per E-Mail und SMS, aber die Herrnhuter Brüder leben heute in der sächsischen Oberlausitz fast wie damals. 1732 waren zwei Herrnhuter zur Karibikinsel Saint Thomas aufge­brochen, um dort kranke Sklaven zu pflegen und ihnen von Jesus Christus zu erzählen – der Anfang einer beispiellosen Missionsarbeit. Heute gibt es knapp eine Million Brüder, die meisten in Tansania, Nicaragua und Surinam.

Eingeladen haben die Herrnhuter gerade Eric Teye-Kau aus Bethesda in Südafrika. In seiner Heimat habe er viel von den ­Schäfern gelernt, sagt er. Die guten Schäfer sind den ganzen Tag bei ihren Schafen und achten darauf, dass sie genügend essen und trinken. Die schlechten Schäfer machen das Gatter auf und überlassen die Tiere sich selbst. Da sitzt er nun, der fromme Mann, inmitten des schlichten weißen Raumes mit den harten Holz­bänken und erzählt von der afrikanischen Weide. „Wir ­Menschen sind doch auch so. Den guten Christen geht es um die Menschen, den schlechten um das eigene Wohl.“ Ein Schlusswort wie aus einer anderen Zeit, hier im Gebetssaal. Jetzt im Herbst herrscht im Dorf schon vorweihnachtliche Geschäftigkeit. Die berühmten Herrnhuter Sterne werden in der Manufaktur am Dorfrand verpackt und in alle Welt verschickt. Auch Eric Teye-Kau wird einen im Koffer haben, wenn er zurück nach Südafrika fährt.

 

Und wir fahren zur letzten Station unserer Reise, mit Bus und Bahn über Dresden nach Leipzig. 11 Uhr, Thomas­kirche. Sonntagsgottesdienst. Nach der Predigt schweben Töne von der Empore herab, hell und klar und leicht, als würde ein Engel sie singen. „Dich bet ich an, mein höchster Gott“, singt ­Johannes Hildebrandt, ein blonder Zwölfjähriger, einer von 102 Knaben aus ganz Deutschland, die hier im Internat zusammen­leben. Nur die Hälfte kommt aus christlich geprägtem Elternhaus, deshalb gehört das Bibelstudium fest zum Lehrplan. Überhaupt, der Lehrplan. Viel Freizeit bleibt nicht für die Thomaner. Die Jungs gehen zur Schule, trainieren ihre Stimme, lernen Instrumente, studieren neue Kantaten ein. Meist von Johann Sebastian Bach, jenem berühmtesten aller Thomas-Kantoren: 27 Jahre lang stand Bach den Thomanern vor, jede Woche schrieb er eine Kantate.

300 Jahre später heißt der Kantor Georg Christoph Biller, und er interpretiert die Werke so, dass sie frisch und lebendig wirken. So weitet er an diesem Herbstsonntag in der Thomaskirche das Lied „Von Gott will ich nicht lassen“ von Max Reger für die Mehrstimmigkeit und unterlegt es behutsam mit dissonanten Elementen. Klingt fast wie Jazz. Die Menschen sollen neu zuhören lernen, sagt Biller, „überall umgibt uns Gedudel, im Kaufhaus, im Fahrstuhl.“ Für Martin Luther war die Musik ein Ausdruck des Heiligen Geistes. „Musik macht die Traurigen fröhlich und die Fröhlichen traurig, reizt die Hochmütigen zur Demut, stillt und dämpft die hitzige und übermäßige Liebe . . .“ Und wenn sie so schön ist wie an diesem Sonntag, klingt sie lange nach.

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