Gott und das Böse in der Welt [1]
Lisa Rienermann
Ist das Reich Gottes eine Utopie?
In jedem Vaterunser steckt das Reich Gottes. "Dein Reich komme" heißt es gleich im zweiten Satz. Wenn man sich anschaut, was Jesus in der Bibel predigt, wird man darüber nicht überrascht sein. Dass das Reich Gottes kommt, ist die Hauptbotschaft seines Redens und Handelns.
Im Markusevangelium lauten die ersten Worte, die Jesus spricht, als er seine Verkündigung beginnt: "Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen." (Markus 1,15) Im griechischen Original steht hier "Basileia tou Theou", was wörtlich übersetzt "Königsherrschaft Gottes" bedeutet. Dieser Begriff stammt aus dem Alten Testament und meint den Bereich, in dem Gott herrscht.
Im Vaterunser heißt es weiter: "Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden". Christen beten mit diesem Satz darum, dass Gott seine Herrschaft ausbreiten möge – auch auf der Erde. Das ist die große Verheißung, mit der Jesus auftritt: Nicht die Menschen sorgen für Gerechtigkeit und Wohlergehen, sondern Gott höchstpersönlich kümmert sich darum.
Wunsch, dass die Herrschaft der Mächtigen ende
Die Königsherrschaft Gottes ist für Jesus nicht nur ein Versprechen für die Zukunft. Sie wird bereits sichtbar in dem, was Jesus tut. "Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen", sagt er (Matthäus 12,28). Der Bereich, in dem Gottes Wille geschieht, vergrößert sich also durch Jesu Wirken. Darum verwendet Jesus in seinen Reden vom Reich Gottes Gleichnisse wie die vom Sauerteig, der langsam das Mehl durchsäuert, oder von der Saat, die langsam aufgeht, bis sie reif ist.
Bis es so weit ist, wird allerdings viel Zeit vergehen. So viel Zeit, dass wir sie nicht in Menschenleben messen können. Reif zur Ernte wird die Erde nicht innerhalb der Weltgeschichte. In der Bitte "Dein Reich komme" steckt ja auch der Wunsch, dass die Herrschaft aller anderen Mächtigen enden möge. Wenn man sich umsieht, wird schnell klar, dass man diese Hoffnung auf das Ende der Zeit richten muss.
Das Reich Gottes ist durchaus real
An dieser Stelle berühren sich das Reich Gottes und die säkularen Utopievorstellungen tatsächlich. "Ou topos" ist wörtlich der "Nicht-Ort", der Ort, der zumindest in dieser Welt nicht existiert. In unserem üblichen Sprachgebrauch ist eine Utopie die Vorstellung einer idealen Zukunft, die zu
verwirklichen als unmöglich angesehen wird. Hier trennen sich die Utopie und das Reich Gottes auch gleich wieder. Denn das Reich Gottes ist nach christlicher Vorstellung durchaus real. Es ist bereits angebrochen und wächst. Dass die Königsherrschaft Gottes erst "am Ende der Tage" vollkommen wird, macht sie nicht unmöglich, denn schließlich wird sie von Gott selbst vollendet.
Hierin besteht der zweite, gravierende Unterschied zur Utopie: Utopien beschreiben ideale Vorstellungen von Lebens- und Gesellschaftsformen, die eben darum nicht umsetzbar sind, weil sie an den menschlichen Möglichkeiten scheitern: Es fehlt (noch) an der nötigen Technik, und es wird immer Menschen geben, die Macht anhäufen und missbrauchen.
Nicht einfach warten, bis es so weit ist
Das Christentum verknüpft das Reich Gottes mit dem "Jüngsten Tag", kurz gesagt mit dem Ende der Welt, an dem die Toten auferstehen und Jesus Christus zurückkehrt, um den Herrschaftsbereich Gottes auf das ganze Universum auszudehnen und Gottes Gerechtigkeit durchzusetzen. Die Vollendung der Basileia tou Theou liegt also außerhalb der Weltzeit und in den Händen Gottes.
Das bedeutet nicht, dass Christinnen und Christen einfach warten könnten, bis es so weit ist. Auch wenn sie die Vollendung weder herbeiführen können noch sollen, ist es ihre Aufgabe, den Bereich, in dem Gottes Gerechtigkeit gilt, auszudehnen. Und das bedeutet zu schauen, was Gottes Wille ist und ihn zu tun.
"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen . . . und deinen Nächsten wie dich selbst" (Lukas 10,27), lautet das wichtigste Gebot. Daran muss sich christliches Handeln ausrichten, und darum engagieren sich Christen gesellschaftlich. Dieses Engagement wird oft als politisch missverstanden, aber es ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass das Reich Gottes da ist und sich langsam durchsetzt.