chrismon
Veröffentlicht auf chrismon (https://chrismon.evangelisch.de)

Startseite > Corona und die Krise des Neoliberalismus

Corona und die Krise des Neoliberalismus [1]

Die fetten Pferde füttern
Das muss so sein, haben uns die Ökonomen ein­geredet. Eigennutz und der freie Markt würden schon alles gut regeln. Jetzt zeigt sich, wie falsch das war.
Standpunkt - Die fetten Pferde füttern

Jill Senft

Wenn Geiz plötzlich geil genannt wird, wenn Gier für das Fi­nanzsystem als eine Qualifikation gilt, schwinden auch die moralischen Bedenken gegen den eigenen Egois­mus.

Standpunkt - Die fetten Pferde füttern

Wolfgang Kessler [2]

[3]
Vorgelesen: Standpunkt "Die fetten Pferde füttern"

Das Coronavirus verändert alles, sogar das Denken der Wirtschaftspolitiker. Auf einmal ist es selbstverständlich, dass private Unternehmen staatliche Zu­schüsse erhalten. Vor wenigen Monaten ­hatte der Begriff "Enteignung" noch hasserfüllte Reaktionen ausgelöst, jetzt werden Verstaatlichungen zur Rettung von Betrieben nicht mehr ausgeschlossen. Plötzlich kritisiert ein Sozialminister, dass es manche Krankenhäuser wohl mit dem Effizienzdenken etwas übertrieben hatten, weil lange Zeit keine Schutzanzüge vorrätig waren. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel appellierte mehrmals an die Solidarität der Mitbürger und bittet sie, ihre kurzfristigen Interessen und ihren Egoismus hintanzustellen. 

Wolfgang Kessler

Wolfgang Kessler ist Wirtschafts­wissenschaftler und Publizist. Er war von 1999 bis 2019 Chef­redakteur der unabhängigen christlichen Zeitschrift "­Publik-Forum". 2019 erschien sein Buch "Die Kunst, den Kapitalismus zu ­verändern" im Publik-­Forum-Verlag. Im Juni erhält Kessler den Walter-Dirks-Preis für engagierten ­Journalismus für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
[2]PR

Es brauchte offenbar ein tödliches Virus, um zu erkennen, dass die Wirtschaftsphilosophie, die Ökonomen seit 40 Jahren predigen, mit großen  Krisen nicht fertig wird. Seit den 1970er ­Jahren wurde uns eingeredet, dass der Wohlstand aller wächst, wenn sich alle an ihren kurzfristigen Interessen, an ihrem Eigennutz orientieren; dass der freie Markt effektiv ist, der Staat dagegen ein bürokratischer Moloch. Und dass es den Menschen umso ­besser geht, je mehr sie dem ­freien Markt vertrauen, weil dieser ­Krisen besser und schneller bewältigen ­könne als der Staat. Dieser Marktradikalismus fällt uns nun auf die Füße.

Um zu verstehen, woher er kommt, muss man in das Jahr 1947 zurück­gehen. Der Sieg über den Nationalsozialismus war gerade einmal zwei Jahre alt, als sich eine kleine Schar von etwa 50 Personen, zumeist Universitätsprofessoren, auf dem Mont Pèlerin hoch über dem Genfer See zu einer Konferenz trafen. Sie hatten ein klares Ziel vor Augen: den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft zurückzudrängen, wie er zuvor in brutalen Diktaturen, aber auch unter US-Präsident Roosevelts New Deal gewachsen war.

Chicago als Brutstätte marktradikaler Ökonomen

Der wichtigste Kopf dieser Gesellschaft war Friedrich August von ­Hayek, ein Ökonom, der 1944 einen Bestseller geschrieben hatte: "Der Weg zur Knechtschaft". Sein aufmerksams­ter Zuhörer war ein junger US-amerikanischer Ökonom: Milton Friedman. Dessen Lehrstuhl in Chicago wurde in den 1970er Jahren zur Brutstätte marktradikaler Ökonomen, die neben Margaret Thatcher und Ronald ­Rea­gan auch den chilenischen Putsch­general Augusto Pinochet berieten.

Der vermeintlichen Allmacht des Staates setzten von Hayek und Co. die Lehre von einem freien Markt entgegen, auf dem freie Unternehmen und freie Individuen um die Gunst der Konsumenten ringen. Die Triebfeder des wirtschaftlichen Handelns sahen sie im Egoismus des "Homo oeconomicus", der jede Entscheidung rational danach abwägt, welchen Nutzen sie ihm bringt. Nach dieser Theorie sind alle ihres Glückes Schmied. Allerdings tragen sie auch die Verantwortung ­dafür, wenn sie es nicht schaffen.

Diese marktradikale Gedankenwelt blieb lange Zeit Theorie. Viele europäische Regierungen setzten in den 1960er und 1970er Jahren auf eine "soziale Marktwirtschaft" oder auf den "Wohlfahrtsstaat". Sie wollten die Unwägbarkeiten der freien ­Märkte durch staatliche Korrekturen ausgleichen – und vor allem Menschen in Not mit staatlicher Hilfe absichern.

Egoismus wird zur politischen Doktrin

Ende der 1970er Jahre begann sie dann, die Marktrevolution. Es war eine Chemikerin namens Margaret Thatcher, die auf einem Parteitreffen der Konservativen 1975 das Buch von Hayek hochhielt und ihre Pferde-Spatz-Philosophie verkündete: Man müsse die fettesten Pferde füttern, dann fielen auch für die Spatzen mehr Pferdeäpfel ab, sagte Thatcher. Sie senkte die Steuern für Reiche und Investoren und beseitigte viele Beschränkungen für Unternehmen. Ihr Credo: Vorrang für den freien Markt, Vorfahrt für den Eigennutz, die individuelle Bereicherung nutzt allen. Mit diesem Programm gewann Margaret Thatcher 1979 die britischen Parlamentswahlen. In den USA folgte bald Ronald Reagan als Präsident, mit einem ähnlichen Programm.

Diese Revolution zeigt Folgen bis heute: "Im Laufe der vergangenen 40 Jahre wurde das, was wir respektieren und denken, durch das Einbinden von marktwirtschaftlichen Konzepten in unseren Alltag völlig verändert", schreibt der britische Ökonom Jona­than Aldred in seinem brandaktuellen, in einigen Monaten auf Deutsch erscheinenden Buch ­"Der korrumpierte Mensch" (Klett-Cotta).

Ökonomen sehen sich als Hüter der Wahrheit

Die Pferde-Spatz-Philosophie beherrscht mittlerweile viele Köpfe. Am stärksten die der Wirtschaftswissenschaftler. Sie differenzierten diese Lehre immer weiter aus, gossen sie in mathematische Formeln und taten so, als sei sie die Wahrheit schlechthin. Der Siegener Wirtschaftsprofessor Helge Peukert durchforstete jüngst für eine Studie die wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Lehr­bücher und stellte fest: "Von Alaska bis zum Horn von Afrika wird in allen Lehrbüchern der möglichst freie Markt beschworen, der Mensch als Homo oeconomicus. In vielen ­Büchern mit Millionenauflage kommt der Staat als Akteur erst gar nicht vor."

Der Einfluss des marktradikalen Denkens, heute als Neoliberalismus bezeichnet, reicht weit über die Wissen­schaft hinaus. Viele Vermögende und Unternehmer machen keinen Hehl daraus, dass die Lobpreisung der ­"fetten Pferde" genau ihren Interessen entspricht. Wer glaubt, dass jeder seines Glückes Schmied ist, sieht seinen Reichtum und seine Gewinne als wohlverdient an und übersieht den Anteil, den die Bildung daran hat, die der Staat ermöglicht hat. Oder welche Rolle der Zufall spielt. Wer so denkt, wehrt sich gegen jede Form der Umverteilung. Warum Geld an jene abtreten, die – nach dieser Glücksphilosophie – selbst für ihr Unglück verantwortlich sind?

Die Steuern für Reiche werden gesenkt

Auch die Mehrheit der Politikerinnen und Politiker regiert seit vielen Jahren nach dem marktradikalen Muster. Viele nicht so konsequent wie einst Margaret Thatcher, aber trotzdem für alle spürbar. So senkten viele Regierungen die Steuern für Reiche und Unternehmer und schafften in den 1990er Jahren viele Schranken für die Kapitalmärkte ab. Im Glauben an die Segnungen des freien Marktes ließen sie zu, dass Finanzinvestoren Krankenhäuser, Pflege­heime, Wohnungen oder etwa die Wasser­versorgung an sich reißen. In vielen Staaten traten die ­Regierungen die Herstellung von Impfstoffen vor rund 20 Jahren an private Hersteller ab, aus Kostengründen. Jetzt in der Krise kann sich der Ausverkauf des Staates an die Privatwirtschaft bitter rächen.

Doch längst hat sich die Marktmentalität weit in unseren Alltag gefressen. Wenn Geiz plötzlich geil genannt wird, wenn Gier für das Finanzsystem als eine Qualifikation gilt, schwinden auch die moralischen Bedenken gegen den eigenen Egoismus. Es geht dann im Leben vor allem darum, im Rennen um immer mehr der Schnellste zu sein. Über Hamsterkäufe in Krisenzeiten braucht sich da niemand zu wundern. Von Solidarität war ja 40 Jahre lang kaum die Rede, außer auf Gewerkschaftsversammlungen und in den Kirchen.

Der Marktradikalismus trägt nichts zur Lösung bei

Doch in Zeiten von Corona zeigt sich – nicht zum ers­ten Mal, aber diesmal besonders deutlich –, dass das Konzept des freien Marktes Krisen nicht verhindert und schon gar nicht zu ihrer Lösung beiträgt: Dies bewies bereits die Finanzkrise, in der Banken und Investoren ihre neuen Freiräume zu rasenden und unkontrollierbaren Spekulationen nutzten – und später nur mit milliardenschweren Hilfs­programmen der Staaten gerettet werden konnten.

Auch die Klimakrise wird nicht allein mit Hilfe des freien Marktes gelöst werden können. Im Gegenteil. Der Übergang von einem kurzfristig orientierten Wegwerfkapitalismus zu einer nachhaltigen Langfrist­ökonomie wird nur mit staatlichen Rahmenbedingungen und einem Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit gelingen. Wenn die Unternehmen in der Corona-­Krise jetzt entschieden nach dem Staat ­rufen und Politiker die Solidarität der Menschen beschwören, so steckt darin auch Hoffnung. Jene nämlich, dass der Glaube an den allein selig machenden freien Markt, an den Egoismus der Einzelnen zum Nutzen aller als das entlarvt wird, was er ist: eine Ideo­logie für die Herrschaft von wenigen, die die Zukunft aller bedroht, weil sie den großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts nicht gerecht wird.


Quell-URL: https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2020/49533/corona-und-die-krise-des-neoliberalismus

Links
[1] https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2020/49533/corona-und-die-krise-des-neoliberalismus
[2] https://chrismon.evangelisch.de/personen/wolfgang-kessler-49302
[3] http://static5.evangelisch.de/get/?daid=00010001gfJgR034X7xqyBgiJibHUSvo9FVWCau1bOzvBBs9RIQm000000231406&dfid=a-mp3