Natalie Grams und Sven Gottschling über Homöopathie [1]
Anne-Sophie Stolz
Begegnung - Was hilft wirklich, wenn man krank ist?
chrismon: Geben Sie homöopathische Globuli, wenn Ihre Kinder krank sind?
Beide: Nein!
Natalie Grams: Das Allermeiste vergeht doch von alleine. Man liest ein Buch vor, kümmert sich liebevoll. Ein junger Körper hat enorme Selbstheilungskräfte – blaue Flecken verschwinden über Nacht, Wunden heilen rasch, Fieber kann innerhalb von Stunden sinken. Dann wird aus einem schwer kranken Kind im Handumdrehen ein putzmunteres. Wenn man bei jeder Bagatelle mit Medizin kommt, lernt ein Kind nicht, seinem Körper zu vertrauen.
Sven Gottschling: Ich finde das gruselig, wenn sich auf dem Spielplatz ein Kind das Knie aufschlägt und gleich drei Leute ihre homöopathische Notfallapotheke aus der Tasche zerren; und wenn mal keiner eine dabei hat, sorgen sich alle, dass das nie wieder abheilen oder eine fußballfeldgroße Narbe hinterlassen wird. Eine Kollegin von mir, eine Oberärztin, wurde im Kindergarten gefragt, ob ihre Kinder Arnica-Globuli bekommen sollen, wenn sie mal hinfallen. Sie sagte: "Nein. Wenn ich möchte, dass sie was naschen, dann kriegen sie Gummibärchen von mir." Globuli sind halt nur Zucker.
Natalie Grams
Prof. Sven Gottschling
Warum sagen Leute, ihnen hätten Globuli geholfen?
Gottschling: Die haben vom Placeboeffekt profitiert.
Grams: Das heißt: Schon die Erwartung, dass einem etwas Heilsames getan wird, kann dazu führen, dass sich Beschwerden bessern, weil dadurch die Selbstheilungskräfte aktiviert werden, bei Schmerzen etwa werden körpereigene Opiate ausgeschüttet.
Ein Placebo ist also eine Scheintherapie?
Gottschling: Ein Kollege erzählte in einer Medizinerrunde, dass sein Kind eine Dornwarze am Fuß habe, schulmedizinisch war schon alles Mögliche getan. Da rief ein anderer Kollege spontan: "Die zaubern wir weg!" Er erklärte dem Kind, dass es den Fuß unter ein sehr teures und nicht ungefährliches Bestrahlungsgerät halten muss. Das war hier im Klinikkeller ein uralter Linearbeschleuniger, da war noch nicht mal der Stecker in der Steckdose. Er ging raus wegen der Strahlen, zählte laut, sagte dann: Behandlung beendet. Eine Woche später war die Warze weg.
"Wir sind alle empfänglich für Placebos" - Natalie Grams
Aber vernünftige Erwachsene sind doch nicht empfänglich für Placebos!
Gottschling: Ich nehme gelegentlich eine Kopfschmerztablette, und, oh Wunder, in aller Regel sind nach zehn Minuten die Kopfschmerzen besser.
Grams: Das kenne ich!
Gottschling: Es ist aber Blödsinn, weil der Wirkstoff erst nach 25 bis 30 Minuten im Blut ist. Die Tablette hilft mir schon, bevor sie mir helfen kann. Allein meine Wirkerwartung löst das aus.
Grams: Wir sind alle empfänglich für Placebos. Natürlich hat der Placeboeffekt Grenzen – dadurch kann man keinen Schlaganfall und kein zertrümmertes Bein heilen. Aber der Placeboeffekt ist bei jeder Therapie dabei. Nur gibt es eben Arzneitherapien, die nachweislich darüber hinausgehen. Und andere, die das nicht tun.
"Das ist ein super Beispiel für den Danach-aber-nicht-deswegen-Fehlschluss" - Natalie Grams
Wie findet man heraus, ob eine Arznei über den Placeboeffekt hinaus wirkt?
Grams: Man teilt eine Gruppe von Menschen zufallsgesteuert in zwei Untergruppen. Die eine erhält ein Scheinmedikament, die andere das echte Medikament. Versuchsleiter und Patienten dürfen nicht wissen, wer die Scheinbehandlung bekommt. Und wenn dann mehr Echtbehandelte als Scheinbehandelte eine Besserung berichten, dann ist das Medikament wirksamer als das Placebo. In der Wiederholung muss der Versuch das gleiche Ergebnis haben, sonst war es Zufall. Das nennt man doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Vergleichsstudien.
Manche Leute sagen: Ich brauche keine wissenschaftlichen Beweise, ich probiere einfach aus, was funktioniert – und die Homöopathie hat mir geholfen.
Grams: Das ist im Einzelfall total verständlich, dass das jemand sagt. Aber es ist ein super Beispiel für den Danach-aber-nicht-deswegen-Fehlschluss. Es ist besser geworden, nachdem man etwas getan hat. Aber war das wirklich deswegen? Die Beschwerden können von alleine vergangen sein, vieles kriegt der Körper selbst in den Griff, vielleicht war auch nicht mehr so viel Stress im Leben.
Wirken homöopathische Mittel nun oder nicht?
Gottschling: Also: Die Homöopathie wirkt – wie viele andere Verfahren auch – über den Zuwendungseffekt. Dass sich ein Therapeut oder Arzt eine Stunde und mehr intensiv für einen Menschen interessiert, wo erlebt ein Patient so was? Normalerweise kennt er die Fünf-Minuten-Fließband-Abfertigungsmedizin. Aber bei den homöopathischen Arzneimitteln muss man sagen: Es gibt keinen Unterschied zwischen Globuli und Zuckerkügelchen [5].
"Steve Jobs wäre wahrscheinlich heute noch am Leben" - Sven Gottschling
Ihnen, Frau Grams, schien als Studentin Homöopathie aber geholfen zu haben.
Grams: Ich hatte Ohnmachtsanfälle und Herzrasen, kein Arzt fand eine Ursache. Dann war ich bei einer Heilpraktikerin. Die sagte: Erzähl mir alles! Und in diesem Gespräch kamen wir darauf, dass das möglicherweise Folgen meines Unfalls waren – ein Auto war mir auf meiner Fahrbahn entgegengekommen. Ich hatte den Unfall einfach so weggesteckt, weil mir offensichtlich nichts Schlimmes passiert war. Im Grunde hatte ich eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Heilpraktikerin sagte: Geh zu einem Psychologen, und wir machen hier bisschen traditionelle chinesische Medizin – immer, wenn die Panik kommt, nimmst du drei Globuli ein. Das war ein super Tool, um den Alarmzustand runterzuregulieren. Das lag aber nicht an irgendeiner arzneilichen Wirkung; das wäre auch mit Atemübungen oder Tai-Chi gegangen. Heute weiß ich, dass mir die Traumatherapie geholfen hat. Damals aber dachte ich: Wow, ich muss unbedingt Homöopathie lernen!
Ist irgendwas dagegen einzuwenden, wenn Leute gegen Beschwerden ein paar Kügelchen einwerfen, die jemand vorher mit Bedeutung und Versprechen aufgeladen hat?
Gottschling: Bei einer banalen Erkrankung ist es relativ egal, wenn Leute ihr Geld in Globuli investieren. Aber Steve Jobs, Mitgründer von Apple, wäre wahrscheinlich heute noch am Leben, hätte er sich nicht auf Alternativpfade begeben. Er hatte einen bestimmten Bauchspeicheldrüsenkrebs, der im Frühstadium heilbar gewesen wäre. Irgendwann war es zu spät.
Andererseits war diese Heilpraktikerin die Erste, die Sie auf die Verbindung mit dem Unfall gebracht hat.
Grams: Genau. Deshalb sage ich heute: Wir brauchen in der Medizin wieder mehr Zeit, um mit Patienten an die Ursachen zu kommen. Auch, um mal zu sagen: Wir lassen jetzt den Körper walten, und ich bin für Sie da in dieser Zeit.
"Medizin hat ganz viel mit Magie zu tun" - Sven Gottschling
Meinen Sie, die heutigen Ärzte und Ärztinnen könnten das, wenn man ihnen die Zeit gäbe?
Grams: Nicht alle.
Gottschling: Aber einige. Ich glaube, dass viele Kollegen unter dieser Fließbandmedizin leiden. Ich selbst würde daran kaputtgehen. Ich bin total froh, mir als Schmerztherapeut und Palliativmediziner Zeit nehmen zu können für Patienten. Ich bin schon der Meinung, dass Medizin ganz viel auch mit – das klingt jetzt blöd – mit Magie zu tun hat, dass viele Wirkungen über die Erwartung ausgelöst werden. Denn wir haben gar nicht so viele Medikamente, die dramatisch über den Placeboeffekt hinausgehen.
Grams: Ich glaube, dass gute Medizin aus einer guten wissenschaftlichen Basis und der Heilkunst besteht. Wie begegnen wir dem Patienten, wie ist das Verhältnis zwischen uns als Menschen? Es braucht dafür aber keine Magie.
Gottschling: Ich bin ja von Haus aus Kinderarzt, und Kinder sind als mystisch-magische Wesen sehr beeinflussbar. Ich finde, das kann man auch positiv nutzen. Ich mache auch Laserakupunktur, die ist im Unterschied zu den Nadeln schmerzfrei, und gerade die Jungs, wenn ich denen erzähle, das ist jetzt mein Lichtschwert . . .
Grams: . . . das ist unlauter! Das ist Star Wars!
Gottschling: Die gehen mit einem seligen Lächeln da raus und erzählen in Kindergarten oder Schule: Mein Arzt behandelt mich mit seinem Lichtschwert!
"Ich dachte, ich bin eine Betrügerin" - Natalie Grams
Ist Akupunktur nicht auch Hokuspokus?
Gottschling: Nein!
Grams: Doch, aber ein besserer Hokuspokus als Homöopathie.
Frau Grams, Sie hatten eine gut gehende homöopathische Privatpraxis – also halfen Sie den Menschen doch?
Grams: Dass die Homöopathie hilft, bestreitet ja niemand. Die Frage ist: Wie hilft sie? Homöopathen sagen, es sei eine arzneiliche Wirkung. Die Wissenschaft sagt: Nein, da wirkt etwas Psychologisch-Zwischenmenschliches. Ich hatte damals sehr gute Bewertungen auf diesem Jameda-Portal mit 1,0, aber keiner schrieb: Danke für die richtigen Globuli. Sondern: Danke für die Zeit, für die Zuwendung, danke, dass Sie mir zugehört haben. Ich glaube, das ist der Placeboeffekt plus die vergehende Zeit, bis der Körper es selbst schafft. Es tut mir nur leid, dass ich dafür diese Kulisse aufgebaut habe.
Dann aber kam die Wende . . .
Grams: Als ich dabei war, ein Buch zu schreiben, das eigentlich die Homöopathie verteidigen sollte, las ich dafür Studien, sprach mit Wissenschaftlern – und habe die Homöopathie erstmals kritisch hinterfragt. Am schlimmsten war die Zeit, als ich schon wusste, hier kann nichts Arzneiliches stattfinden, und die Patienten sagten mir trotzdem: Es geht mir besser. Das war echt eine Qual, ich dachte, ich bin eine Betrügerin. Zum Glück kam dann das dritte Kind. Ich schloss die Praxis.
"Das ist die alte chinesische Denkweise, jenseits von anatomischen Grundkenntnissen" - Sven Gottschling
Während Sie, Herr Gottschling, als junger Arzt ein glühender Verfechter der Schulmedizin waren.
Gottschling: Ja, ich war in der Kinderonkologie tätig, als Arzt im Praktikum, und immer wieder fragten Eltern: Was können wir denn zusätzlich noch für unser Kind tun – Misteltherapie, Globuli . . . ? Mein damaliger Chef sagte, es muss sich mal jemand damit auseinandersetzen, und ich duckte mich nicht schnell genug weg. Aus den ersten Akupunkturkursen wäre ich fast schreiend davongelaufen, als da von Energieflüssen und der sonnenbeschienenen Seite des Hügels die Rede war. Das ist die alte chinesische Denkweise, jenseits von anatomischen Grundkenntnissen. Ich war ultraskeptisch, fing aber parallel an, Patienten zu behandeln, in der Familie zu behandeln, auch mich selbst wegen Migräne und Heuschnupfen – und war völlig hin und weg von den Effekten. Und dann haben wir hier in der Uniklinik angefangen, Studien aufzulegen.
So richtig hochkarätige Studien?
Gottschling: Ja. Wir machen Akupunktur mit einem echten Laser und einem Placebolaser. Beide blinken und piepen, das ist also doppelblind. Wir haben bei Kindern, die einer schmerzhaften Prozedur unterzogen werden mussten, vorher einen Punkt zur Schmerzlinderung gelasert. Die Ergebnisse sind der Hammer!
Grams: Ich bin von der Nadelakupunktur überzeugter als von der Laserakupunktur: Wenn man eine Nadel in den Körper sticht, passiert körperlich etwas. Es ist der Akt des Nadelns, der hilft. So weit würde ich mitgehen. Aber Meridiane als Energiebahnen – das ist wissenschaftlich nicht haltbar. Es ist egal, wo man hinsticht. Mich wundert, lieber Herr Gottschling, dass Sie bei der Akupunktur so unkritisch sind, auf andere Verfahren schauen Sie viel wissenschaftlicher.
Gottschling: Auch mit der Laserung bringe ich Stoffwechselprozesse in Gang, ich setze ja ein Energiedepot in die Gewebetiefe, da findet messbar eine erhöhte Kommunikation zwischen Zellen statt. Die Akupunktur wirkt wahrscheinlich als eine Art Reflextechnik. Wir wissen ja, wenn wir einen Herzinfarkt haben, kriegen wir Schmerzen im linken Arm, im Unterkiefer oder im Oberbauch, das sind Areale, die dann stellvertretend Alarm schreien. Und ich vermute, dass es umgekehrt auch geht: Wenn ich ganz bestimmte Hautflächen ansteuere, kann ich damit wiederum auch eine Wirkung auf innere Organe erzielen. Dafür gibt es schon erste Hinweise.
Grams: Aber bei der Akupunktur ist doch die Beleglage fast genau so mau wie bei der Homöopathie!
Gottschling: So mau ist die nicht! Wo ich Ihnen recht gebe: Wir fangen gerade erst an, unsere Studien in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Aber da kommt jetzt mehr!
"Ich bekam Morddrohungen, hielt Vorträge unter Polizeischutz" - Natalie Grams
Beide sagen Sie öffentlich, dass Sie von der Homöopathie als Arzneitherapie nichts halten – was bekommen Sie für Reaktionen?
Grams: Nur nette. (Beide lachen.)
Gottschling: Ich bekomme regelrechte Hassmails. Wenn ich einen Fernsehauftritt hatte oder einen Vortrag gehalten habe, wurden meine Sekretärinnen am Telefon aufs Wüsteste beschimpft. Das hat mich schon erschreckt. Die wenigen Patienten darunter sagen, sie seien enttäuscht von mir, formulieren das aber meist freundlich. Die richtig üblen Attacken kamen in der Regel von Ärzten oder Heilpraktikern, die die Methoden, die ich entmystifiziere, selbst betreiben.
Grams: Ich bekam auch immer wieder konkrete Morddrohungen, hielt Vorträge unter Polizeischutz. Mittlerweile lebe ich verborgen. Das ist bedrückend. Inzwischen habe ich mich mit wissenschaftlich denkenden Menschen zusammengetan. Und sehe jetzt auch, da ich mit einer Klage bedroht werde, dass es eine große Solidarität mit mir gibt. Das Pharmaunternehmen Hevert, das Homöopathika herstellt, fordert, dass ich eine Unterlassungserklärung unterschreibe. Das Schreiben habe ich auf Facebook und Twitter öffentlich gemacht. Es kam unglaublich viel Unterstützung! [6] Wenn der Hersteller wirklich klagt, werde ich zumindest nicht am Finanziellen scheitern.
Gottschling: Damit schießen die sich doch ein Eigentor!
Was sollen Sie nicht mehr sagen dürfen?
Grams: "Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus." Dabei sagen das die korrekt gemachten Studien ebenso. Die müsste die Firma auch verklagen, eigentlich. Aber ich glaube, es geht hier um was ganz anderes: Die Umsätze der Homöopathie gehen zurück. Weil die Kritik jetzt aus so vielen Ecken kommt.
"Man rüttelt offensichtlich am Weltbild einzelner Menschen" - Sven Gottschling
Gottschling: Dass sich manche wirtschaftlich bedroht fühlen, ist das eine. Das andere ist: Man rüttelt offensichtlich am Weltbild einzelner Menschen, und das löst wohl massivste innere Widerstände aus, richtigen Fanatismus.
Grams: Dabei sagt keiner, Homöopathie soll verboten werden. Oder: Wer das macht, ist bescheuert. Wir nehmen nichts weg, sondern wir schenken Aufklärung, wir schenken Wissen. Dafür so fertiggemacht zu werden, das ist rational nicht erklärbar.
Gottschling: Ich kann mir die Reaktion nur so erklären, dass wir einen Zaubertrick entmystifizieren. Damit schubsen wir diese Gruppe von Heilern oder auch selbst ernannten Heilern von ihrem Podestchen.
Grams: Im Grund sind wir die Kinder, die schreien: Der Kaiser ist nackt! Ich habe ja selbst erlebt, wie sich das anfühlt. Man ist nicht mehr die omnipotente Heilerin, man muss sich quasi auf dem Boden der Realität mühsam zusammenklauben. Das tut weh. Aber ich denke immer: Wenn man dafür auf dem Boden der Realität landet, ist das doch viel sicherer. Wir haben es hier ja nicht mit dem persönlichen christlichen Glauben zu tun, sondern wir sprechen hier über Medizin und Wissenschaft. Da kann man nicht einfach sagen, der Glaube stehe über dem Wissen.