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Die Welt steht nicht am Abgrund, wie Populisten behaupten [1]

Populismus - Das Geschäft mit der Angst
Es geht der Menschheit so gut wie nie zuvor. Trotzdem reden alle immerzu von Krisen und Katastrophen. Davon profitieren die Populisten.
Illustration zum Standpunkt, den Teufel an die Wand malen

Studio Pong

Standpunkt, Walter Wüllenweber, chrismon Mai 2019

Walter Wüllenweber [2]

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Vorgelesen: Standpunkt "Das Geschäft mit der Angst"

Vor rund 300 000 Jahren begann der Homo sapiens, die Erde zu be­völkern. Über 100 Milliarden Individuen unserer Spezies wurden seitdem geboren. Und ausgerechnet wir, die Menschen des 21. Jahr­hunderts, haben das Privileg, in der besten Phase der Menschheit leben zu dürfen. Für unsere Vorfahren war der kurze Augenblick zwischen Geburt und Tod geprägt von Hunger, Krankheit, Armut, Unterdrückung und Gewalt. Keine dieser Plagen ist bis heute besiegt – aber alle sind erheblich verringert. Noch nie waren Menschen so gesund, so reich, so gebildet, so frei und so sicher vor Gewalt und Kriminalität wie heute. Und noch nie wurden sie so alt. 72 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Erdenbürgers heute.

Walter Wüllenweber

Walter Wüllenweber ist Autor des Magazins "Stern". 2018 veröffentlichte er das Buch "Frohe Botschaft" im Verlag DVA. Als er mit ­Kolleginnen und Freunden über die guten Nachrichten sprach, wollte ihm kaum einer glauben. Die Statistiken ­überzeugten sie.
[2]Roman PawlowskiFoto von Walter Wuellenweber, chrismon Mai 2019

In vielen Ohren klingen diese ­"frohen Botschaften" wie naive Realitätsverweigerung. Doch der Befund lässt sich wissenschaftlich solide belegen, die Ergebnisse sind unstrittig. In den 1960er Jahren verhungerten weltweit von 1000 Menschen jedes Jahr 50. Heute noch einer alle zwei Jahre – ein Minus von 99 Prozent. Die Kindersterblichkeit wurde seit 1990 weltweit halbiert. Der Analphabetismus konnte von fast 60 Prozent in den 1950er Jahren auf heute 14 ­Prozent reduziert werden.

Deutschland hat die niedrigste Kriminalitätsrate seit der Wiedervereinigung

Ebenso drastisch wie beinahe unbekannt ist der Rückgang der Gewalt. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Krieg getötet zu werden, ist heute siebenmal geringer als in den 1970er und 80er Jahren. Damals wurden in Westeuropa jedes Jahr sechsmal mehr Menschen bei Terroranschlägen ermordet als in den vergangenen zehn Jahren. Deutschland kann sich über die niedrigste Kriminalitätsrate seit der Wiedervereinigung freuen – und nimmt es kaum zur Kenntnis. Besonders beeindruckend ist der Rückgang bei Jugendgewalt, bei Vergewaltigungen, bei Mord und ganz besonders beim Sexualmord: minus 85 Prozent seit der Wiedervereinigung. Nicht nur bei der Sicherheit, die Deutschen gehören insgesamt zu den Gewinnern in diesen goldenen Jahrzehnten. Das Land hat die Wiedervereinigung gemeistert, die Massenarbeitslosigkeit überwunden, einen der besten Sozialstaaten aufgebaut und seit 2013 die Aufnahme von fast zwei Millionen Geflüchteten besser bewältigt, als selbst Optimisten gehofft hatten.

Ja, an dieser Stelle gibt es eine ­Menge einzuwenden: Trotz der unbestreitbaren Verbesserungen sind natürlich nicht alle Probleme gelöst, bei weitem nicht. Vor allem die drohende Klimakatastrophe ist längst nicht abgewendet, und augenblicklich gibt es wenig Anlass zur Hoffnung. Dennoch ist gerade der Umweltschutz ein Gebiet, auf dem in den vergangenen Jahrzehnten außergewöhnliche Erfolge gelungen sind. Der Zustand der deutschen Gewässer hat sich signifikant verbessert, das Waldsterben wurde verhindert, und das Ozonloch schließt sich wieder. Für einen großen Teil davon ist die Zivilgesellschaft verantwortlich. Es hat sich gezeigt: Engagement wirkt. Ausgerechnet die deutsche Gesellschaft hat sich als ­lernendes Gemeinwesen erwiesen.

Aber es fühlt sich überhaupt nicht so an

Weil sich die vielen positiven Entwicklungen gegenseitig verstärken, befindet die Menschheit sich in einer regelrechten Aufwärtsspirale. Aber es fühlt sich überhaupt nicht so an. Wenn die Fakten so eindeutig sind, warum schaffen die vielen positiven Sensationen es nicht, in unser Bewusstsein vorzudringen?
Vor allem zwei Faktoren sind dafür verantwortlich: die Natur des Menschen und die Funktionsweise der Medien.

 Der Mensch ist ein Flucht­tier. Feigheit ist das evolutio­näre Erfolgsrezept unserer Spezies. Unsere Sinnesorgane scannen unablässig die Umgebung nach Gefahren ab, und sämtliche ­Informationen darüber werden von unserem Gehirn mit absolutem Vorrang verarbeitet. Entwarnung hin­gegen läuft unter "ferner liefen". Jahrzehnte hingen in unseren Schulen Plakate, die warnten: "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam." Dass Polio inzwischen weltweit so gut wie besiegt wurde, interessiert uns kaum. Problem gelöst, Problem vergessen.

Die Medien liefern, was die Gehirne des Publikums verlangen: Alarm. Darum beginnt jeder Tag mit dem Morgengrauen, im Radio, im Fernsehen, in der Tageszeitung: Terror, Naturkatastrophen, Kriminalität. Die vielen richtigen Nachrichten erzeugen den falschen Eindruck, ­heute werde mehr gestorben als früher. Tatsächlich wird nur mehr darüber berichtet. Seit den 1960er Jahren hat sich die tägliche Mediennutzungszeit auf heute zehn Stunden verdreifacht. ­Medien bestimmen zunehmend ­unsere Wahrnehmung der Realität.

Noch nie waren die Menschen so gesund, so reich, so gebildet, so frei und so sicher vor Gewalt wie heute

Auch der Qualitätsjournalismus ist mitverantwortlich für das Entstehen des "Pessimismusreflexes". Doch er hat gleichzeitig eine heilsame Wirkung. Indem Journalisten Missstände aufdecken, ermöglichen sie den Gesellschaften, ihre Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Der kritische Journalismus hat somit einen Anteil an den vielen Verbesserungen.

Ganz im Gegensatz zu den "so­zialen" Medien. Die Wahrheit spielt im virtuellen Meinungsbunker allen­falls eine Nebenrolle. Am besten klickt alles, was Angst macht. Sämtliche Untersuchungen zeigen, dass die vielen Übertreibungen, die Falschmeldungen, die dreisten Lügen eine entscheidende Gemeinsamkeit haben: Sie verkünden nie eine positive oder beruhigende Botschaft. Soziale Medien sind hocheffektive Angstma­schinen.

Das macht sie zum perfekten Werkzeug der Angstmacher. Die weltweite Welle des Populismus wäre ohne ­soziale Medien undenkbar. Die zentrale Botschaft aller Populisten lautet: Alles wird schlechter. Die Welt steht am Abgrund. Die Katastrophe ist die Mutter aller Fake News.

Die kompetenten Zeitgenossen durchschauen das. Je besser sich ­Menschen mit einem Problem auskennen, umso optimistischer schätzen sie die Lösungschancen ein. ­So fielen AFD-Wähler bei einer ­Studie am häufigsten auf erfundene Falschmeldungen herein. Gleich­zeitig bewerten AFD-Wähler fast alle gesellschaftlichen Problemstellungen – nicht nur die ­Zuwanderung – weitaus bedrohlicher als die Wähler aller anderen Parteien. Die Wahrheit ist meist differenziert. Sie zu verstehen, kostet Mühe und Kompetenz. Bei ge­fühlten Wahrheiten ist jeder ein ­Experte. ­Pessimismus ist der Gefährte der ­Inkompetenz.

Der Populismus braucht den Immerschlimmerismus

Um wirken zu können, braucht der Populismus den Immerschlimmerismus, die Endzeitstimmung. Wenn die Gesellschaft bedroht ist von einem korrupten Establishment oder messermordenden Horden muslimischer Männer, wenn der Untergang unmittelbar bevorsteht, dann ist keine Zeit mehr für abgewogene Kurskorrekturen, dann kommt nur noch die 180-Grad-Wende infrage, um die vermeintlich drohende Katastrophe abzuwenden. Das falsche Bild von der Welt, die in Terror, Gewalt und Korruption versinkt, deren demo­kratische Systeme unfähig sind, die Probleme zu lösen, dient Populisten und ihren Anhängern als Legitima­tion für radikale Veränderungen.

So wird aus einem inzwischen weit verbreiteten Irrtum eine Gefahr. Der aggressive Pessimismus bedroht die Errungenschaften der Vergangenheit, denn die vielen positiven Entwicklungen sind nicht unumkehrbar. Die USA, Großbritannien und einige osteuro­päische Staaten haben den Rückwärtsgang bereits eingelegt. Vor allem aber stehen sämtliche Erfolgsmethoden unter Druck: die freien Medien, die freien und fairen Wahlen, die Unabhängigkeit der Justiz, die Freiheit der Wissenschaft, der freie Handel und vor allem die Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen wie der EU, der UN oder der NATO. Das alles steht unter Dauerfeuer der internationalen Nationalisten.

Nun wird deutlich: Die guten Nachrichten von den vielen sensationellen Verbesserungen sind keine Well­nessbotschaften, die ein wohliges Gefühl bescheren sollen. Sie sind die politischste Botschaft unserer Zeit. Nur wenn wir uns die nie da gewesenen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte bewusst machen und die Erfolgsmethoden entschlossen verteidigen, haben wir eine Chance, die politischen Herausforderungen zu bestehen. Die frohen Botschaften sind die Antwort auf den Populismus.


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