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Wie Städte fußgänger- und radfreundlich werden können [1]

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Die Stadt ist für Autos eingerichtet. Aber Fußgänger haben auch was vor. Und Radlerinnen. Also Schluss damit. Nur: wie? Da gibt es viele Beispiele – in Deutschland und weltweit.
Illustration, Titelgeschichte chrismon Januar-Ausgabe - Wie Städte fußgänger- und radfahr-freundlich werden können

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Illustration, Titelgeschichte chrismon Januar-Ausgabe, eBoy

Christine Holch [2]

Die Frau spricht Klartext: "Der Weg in eine bessere Zukunft kann mit so etwas Simplem wie einem Radweg beginnen." Das sagt Janette Sadik-Khan, die als Leiterin der Verkehrsbehörde in New York City eine Verkehrswende herbeigeführt hat. Jetzt sieht sie ­sogar Kinder, Frauen, ganze Familien mitten in der Großstadt radeln – und freut sich.

Undenkbar vor zehn Jahren, da überlebten nur Extremsportler das Radfahren durch diesen Moloch. Sadik-Khan stand vor einem gewaltigen Problem: New York würde bald um eine weitere Mil­lion Einwohner wachsen, und die dürften auf keinen Fall alle Auto fahren wollen. Nein, die Menschen müssen sich anders fortbewegen können, entschied sie: radelnd, zu Fuß, im Bus. Und das muss leichter werden als bisher.

Also verteilte die oberste Verkehrsplanerin den Straßenraum um: Sie verschmälerte Auto­spuren, nahm auch mal ganze Fahrbahnen weg, legte ein Netz von Radwegen an, erhöhte die Zahl der Expressbuslinien, gab den Bussen eigene Spuren und den Gehenden rund 60 neue attraktive Plätze, sogar ein Teil des Broadways wurde verkehrsberuhigt.

Nimm Autos Spuren weg, und der Verkehr fließt besser

Verkehrschaos? Das Gegenteil passierte: Die Stimmung auf den Straßen veränderte sich – es ging entspannter zu, die Unfallzahlen halbierten sich. Und die Autos kommen schneller voran, die Fahrzeiten sinken, in der Columbus Avenue sogar um 35 Prozent, trotz weniger oder schmalerer Spuren. Weil der Verkehr gleichmäßiger fließt, ohne hektische Überhol- und Bremsmanöver.

Die Radelnden fahren zwar auf der Straße, aber nicht im Strom der Autos, sondern abgetrennt mit schraffierter Sperrfläche, mit Pollern oder Pflanzkübeln. Mittlerweile sind diese "Protected bike lanes" Standard für Hauptverkehrsstraßen in den USA. Und sie sind immer so breit, dass Radfahrende einander stressfrei überholen können.

Denn warum soll in den Städten immer nur der Autoverkehr fließen können? Warum müssen sich Radelnde und Gehende dünnemachen, während Autos überall herumstehen dürfen? Ist das nicht ungerecht?

Es ist nicht nur ungerecht, es ist auch schlecht für die Umwelt. Eigentlich sollte das CO₂ aus den Auspuffrohren schon um 40 ­Prozent gesunken sein (Lesen Sie den Quellen das Dossier "Alles was man wissen muss" [3]) Stattdessen ist der Ausstoß heute genau so hoch wie 1990. Die Autos haben zwar effizientere Motoren als damals, aber fahren mehr und sind schwerer – jeder fünfte Neuwagen ist sogar ein SUV oder ein Geländewagen. Und jedes Jahr steigt die Zahl der Fahrzeuge in Deutschland um eine weitere Million. So kann man die Klima­erhitzung nicht aufhalten.

Verkehrswende? Der aktuelle Bundesverkehrsminister von der CSU mag das Wort nicht, es klinge so rückwärtsgewandt.

Man kann das auch anders sehen. "Wer glaubt, sich im 21. Jahrhundert über Radverkehr und Fußverkehr lustig machen zu können, der hat gar nicht begriffen, wie eine moderne Mobilität aussieht", sagt Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Viele wünschen sich weniger Autos. Und fahren selbst Auto

90 Prozent der Deutschen haben durchaus Sehnsucht nach einem Leben, in dem man nicht so stark auf das Auto angewiesen ist. ­Das ergab eine Umfrage des Bundesumwelt­­minis­teriums. Dass Schulkinder sich auch ohne ­Eltern im Straßenverkehr frei bewegen können, wünschten sich gar 97 Prozent in ­einer Befragung in Baden-Württemberg.

Die meisten dieser Befragten fahren selbst oft mit dem Auto. "Eltern fahren ihre Kinder mit dem Auto zur Schule, damit diese nicht von Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, umgefahren werden." Das steht so auf einem Plakat des Verkehrsclubs Deutschland (VCD).

Natürlich gibt es Situationen, in denen man ein Auto oder ein Taxi braucht – weil man gesundheitlich angeschlagen ist oder ein Regal transportieren will oder in einer dünn be­siedelten Region lebt, wo außer dem Schulbus nichts fährt und auch keine Mitfahrgelegenheit aufzutreiben ist.

Viele Autostrecken kann man zu Fuß, per Rad erledigen

Aber jede fünfte Auto­fahrt in Deutschland ist kürzer als zwei Kilometer. Und etwa jede zehnte Fahrt ist sogar kürzer als ein Kilo­meter. "Erschütternd", nennt das die Chefin des Umweltbundesamts, Maria ­Krautzberger.

Insgesamt ist knapp die Hälfte aller Autostrecken kürzer als fünf Kilometer. Ein ­großer Teil des Autoverkehrs ließe sich also zu Fuß oder mit dem Rad oder mit dem E-Bike zurücklegen. Zur Erinnerung: Für einen Kilometer zu Fuß braucht man 15 Minuten, mit dem Rad vier.

Die Stadt Wien ist da schon weit: Man hat den Autoverkehr geschrumpft. Es gibt so gut wie kein kostenloses Parken mehr, und fast überall gilt Tempo 30. Dafür kann man die Jahreskarte für die allseits geschätzten "Öffis" für 365 Euro kaufen. Im viel kleineren Frankfurt kostet die ÖPNV-Jahreskarte 891 Euro.

Die Wiener Fußverkehrsbeauftragte hat die besten Gehrouten in einem kostenlosen Stadtplan markiert und lässt jetzt mit ­blauen Schildern all die versteckten Schleich­wege und Abkürzungen durch Häuserblocks ­markieren, die sonst nur die nächsten Anwohner kennen. Eine Wien-zu-Fuß-App gibt es natürlich längst.

Autofahrer überschätzen, wie lang es zu Fuß dauert

Warum nur fahren so viele hierzulande so kurze Strecken? Weil sie überschätzen, wie lange ein Weg zu Fuß oder mit dem Rad dauert, und unterschätzen, wie viel Geld und Zeit Autofahren kostet, sagt der Dresdner Verkehrspsychologe Jens Schade. Gewohnheitsfahrer würden nur bei drastischen ­Änderungen ins Nachdenken kommen. Wenn zum Beispiel Kosten um 30 Prozent steigen.

London traute sich so was. Die Stadtregierung bestraft das Autofahren per City-Maut. Gleichzeitig baut man Radschnellwege für Pendler und Pendlerinnen, verdichtet das ÖPNV-Netz, pflanzt Bäume für attraktivere Fußwege. "Heal­thy streets for London", das ist der Plan, gesunde Straßen mit guter Luft.

Aus purer Not. Wenn die Stadt nicht gut funktioniere, sei sie nicht mehr wettbewerbsfähig in der Welt, sagt der Bürger­meister. Lauft und radelt, sagt er, mindestens 20 ­Minuten am Tag! Derzeit bewege sich nur ein Drittel der Bevölkerung so viel. Die Stadt hat ausgerechnet, wie viele Hüftgelenks­brüche, Demenzen, Depressionen und vorzeitige Tode den Menschen erspart blieben. Jüngst wurden in der Rushhour zwischen acht und neun Uhr erstmals mehr Räder als Autos in der City ­gezählt.

Fußgängerfreundlichkeit gilt mittlerweile als Wettbewerbsvorteil. Städte, in denen viele zu Fuß gehen oder radeln, sind beliebt. ­Zürich, Helsinki, Wien, Kopenhagen . . . Solche ­Städte haben einen attraktiven öffentlichen Nahverkehr und ein komfortables Wegenetz für Radelnde und Gehende. Auch Hongkong wetteifert nun darum, die weltweit am besten begehbare Stadt zu werden.

Frauen gehen mehr als Männer

Natürlich gehen auch Deutsche zu Fuß. Frauen mehr als Männer. 22 Prozent der Alltagswege werden zu Fuß bewältigt, mit ­sinkender Tendenz.

Man könnte sich doch freuen wie ein Hund: Jepp, ich darf raus! Allerdings ist ein flüssiges Gehen selten möglich, man muss sich regelrecht durchschlagen. Gehsteige sind Resterampen – für Straßenschilder, die sich an Autofahrende richten, für Pollerpfosten, Streugutkisten, Werbeaufsteller . . .

Und wo bitte soll man über die Straße kommen? Wer sich aus eigener Kraft fortbewegt, ist empfindlich für Umwege und will nicht bis zur nächsten "Querungsanlage" tippeln.

Dabei sind Gehende die Zukunft! Man sollte ihnen Teppiche ausrollen. Zum Beispiel in Form von Zebrastreifen: Wenn die denn beleuchtet und die Fußgänger schon von ­weitem sichtbar sind, also nicht verdeckt durch ­parkende Autos, sind sie sogar sicherer als "Bettelampeln" mit ihrer langen Wartezeit.

Rund 35 000 Menschen werden jedes Jahr in Ortschaften schwer verletzt. Eine mitt­lere Stadt. Die meisten waren zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Die Zahl sinkt seit Jahren nicht mehr weiter.

"Sofortgrün" für Gehende

Alle 50, spätestens 100 Meter ein Zebra­streifen, das wär’ was! Und an vielspurigen Straßen Ampeln mit "Sofortgrün", wie sie Graz erprobt hat. Denn spätestens ab 40 ­Sekunden rennen die Ersten bei Rot rüber. Man sitzt schließlich nicht in einer klima­tisierten Kiste, sondern steht draußen, in Lärm, Abgaswolken und Wetter.

Kopfschüttelnd stoppte denn auch Bernd Herzog-Schlagk vom Fachverband FUSS e. V. die Wartezeit an einer Fußgängerampel in Chemnitz: 58 Sekunden! Er war von der Stadt für einen mehrtägigen "Fußverkehrscheck" eingeladen worden. Chemnitz fehlen zum Beispiel angenehme und erkennbare Verbindungswege zwischen Innenstadt und angrenzenden Vierteln. Auch die Fußgängerzone ­endet abrupt. Probleme, die viele Städte haben.

Gut, dass der Checker auch mal im Winter da war: Im Schnee sah man die Wege, die Fußgänger bevorzugen. Oft mussten sie sich die erst "ertreten", etwa durch Schneewälle, die die Straßenräumfahrzeuge am Rand der Gehsteige aufgeschippt hatten.

Schneeräumung zuerst auf Rad- und Fußwegen, so was scheint nur in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen selbstverständlich zu sein. Überhaupt: sichere Radwege!

Aber selbst im Radparadies Niederlande sind die tollen Wege nicht vom Himmel gefallen. Sie wurden erstritten, mit Massenprotesten in den 70ern. Die Bürgerinnen und Bürger waren empört über den wachsenden Autoverkehr, der so viele Menschen umbrachte und so viel Fläche beanspruchte. Dazu kam der Ölpreisschock. Regierung und Städte beschlossen, Radwege zu bauen – verlockend breit, getrennt vom Autoverkehr. Bald radelte nahezu jeder und jede, egal welchen Alters.

Gute Wege machen Radler höflich

Ein Genuss, auf solchen Wegen dahinzu­segeln. Endlich ist man mal nicht die schwächs­te Haselmaus am Ende der Nahrungskette. Selbst in Kopenhagen, wo man in riesigen Trauben über die Kreuzung radelt, achten alle aufeinander. Gute Infrastruktur ruft gutes Benehmen hervor.

Für Gehende hingegen sind das Paradies die "Begegnungszonen" in der Schweiz. Selbst Verkehrsknotenpunkte werden mit drei einfachen Regeln zu attraktiven Stadtplätzen: Tempo 20, Fußgänger haben Vortritt, dürfen den motorisierten Verkehr aber nicht un­nötig behindern. Die Stadt Biel hat sogar ihren ­geschäftigen Zentralplatz umgestaltet, und da sind wirklich viele Busse, Autos und Fußgänger unterwegs!

Nun schleichen die Autos – und kommen trotzdem gut voran, weil sie weder abrupt bremsen, noch an Zebrastreifen oder Ampeln warten müssen. Eine Atmosphäre wie auf einem Eisplatz, wo alle umsichtig und elegant umeinander herumkurven. Warum können die Schweizer das und wir nicht?

Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen - davon hätten alle was

In Deutschland fordern die Städte seit langem von den jeweiligen Bundesverkehrsminis­tern, auch an Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 anordnen zu dürfen. Dürfen sie aber nicht. Nur im Ausnahmefall und nach mühseliger Prozedur – an Schulen oder Altenheimen etwa. "Dabei wäre Tempo 30 ein riesiger Dienst für die Verkehrssicherheit", sagt Detlev Lipphard vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat.

Und wer kontrolliert, dass tatsächlich 30 gefahren wird? Kein Problem. Man stelle ein Dialog-Display an die Straße: "Danke" liest man darauf, sieht einen grünen Smiley oder ein roten Heuli oder ein Kindergesicht. Diese Zeichen funktionieren richtig gut, wie die Unfallforschung der Versicherer herausgefunden hat, viel besser als die bloße Anzeige des Tempos.

Aber bei Tempo 30 kommt man vollends nicht mehr voran mit dem Auto! Irrtum. Das zeigen Untersuchungen von Hauptstraßen, wo man versuchsweise Tempo 30 eingeführt hat. Die Autos brauchten allermeist nicht mehr Zeit oder nur geringfügig mehr. Den Verkehrsfluss stören nämlich ganz andere Dinge: einparkende Autos, heftiges Beschleunigen oder Bremsen, Parken in zweiter Reihe, schlecht koordinierte Ampeln.

Wenn das Verkehrsministerium nichts tut, außer ein paar kleine Modellprojekte zu bezahlen, wie soll es dann je zu einer Verkehrswende kommen?

Hoffnung geben die Initiativen zum "Volksentscheid Fahrrad". In ­Berlin war man schon erfolgreich – der Berliner Senat übernahm die ­meisten Forderungen und verabschiedete ein Gesetz: Priorität hat jetzt eine umwelt- und stadtverträgliche Mobilität. Und zwar für Kinder wie Alte, Fitte wie gesundheitlich Eingeschränkte. Nun sammeln Initiativen in ­weiteren Städten und Regionen Unterschriften.

Viele Menschen sind bereit für eine Verkehrswende

Vielleicht sind mehr Menschen bereit für eine Verkehrswende, als die Regierung denkt? Wenn es Anreize gibt, ein bisschen Zwang, viele Ausprobiermöglichkeiten. Und Vorbilder – Leute, die sagen: Guck mal, ich mach das so, und das geht wunderbar. Empfehlungsmarketing nennt man das.

So ein motivierendes Vorbild ist der ­radelnde Installateur Theodor Röhm. Der Chef eines Betriebs für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik in Bremen fährt seit 2001 per Lastenrad zum Einsatzort, bepackt mit Werkzeug. Die Heizkessel und Badewannen liefern Großhändler an. Anfangs fand er keine Mitarbeiter, die es ihm gleichtun wollten, also bildete er selbst aus. Der Betrieb floriert.

Ein vernünftiges E-Lastenrad kostet an die 3500 Euro. (Wirklich vernünftig wird es natürlich erst mit Ökostrom.) Mehrere Städte fördern den Kauf – und sind überwältigt vom Interesse. In Berlin war der Fördertopf innerhalb weniger Stunden ausgeschöpft. In ­Stuttgart stockte man den Topf gleich auf, damit niemand leer ausging. Die autodurchflutete, hügelige Stadt spendiert Familien ­(inklusive Alleinerziehenden) bis zu 2000 Euro Zuschuss für ein E-Las­tenrad. Einen Teil der Summe gibt es aber erst nach drei Jahren, wenn kein Auto angemeldet oder das vorhandene abgemeldet wurde.

Braucht man wirklich ein eigenes Auto? In München bietet die Wohnungsgenossenschaft Wogeno in einer Anlage einen ganzen Fuhrpark – ÖPNV-Monatskarten, E-Autos, Las­tenräder . . . Weniger als die Hälfte der Haushalte hat ein Auto, das ersparte den Bau vieler teurer Garagenplätze. Und immer mehr Leute geben ihr Auto auf, nachdem sie die Alternativen ausprobiert haben, erzählt Verwalterin Claudia Beutel. Neulich sagte ihr ein Bewohner: "Bloß wegen meiner zwei Italienreisen im Jahr brauche ich doch kein eigenes Auto."

Radfahren mit Baby geht und ist erlaubt

Ausprobieren ist wichtig. Zum Beispiel für junge Eltern, die sind oft ratlos. In Leipzig dürfen Erwachsene mit Säugling ein Jahr lang in Bus und Straßenbahn kostenlos fahren – das kommt an, und nicht wenige bleiben dabei. Auch Hannah Eberhardt von der Agentur "Verkehr mit Köpfchen" stieß auf großes Interesse bei jungen Eltern, als sie auf Stadtfesten zeigte, wie ein Babyeinsatz in Radanhängern oder Lastenrädern befestigt wird. Ja, man kann und darf auch mit Baby radfahren, sagt sie. Die jungen Eltern waren angetan. Aber manchen sind die Radwege zu unsicher.

Stimmt ja auch: Radelnde finden in Deutschland meist einen unzumutbaren ­Flickenteppich aus zusammenhanglosen und zu schmalen Radwegen vor. In den 80er ­Jahren hatten die Verkehrsplaner vielerorts die Gehwege halbiert und eine Hälfte als ­Radweg ausgewiesen. Seitdem streiten sich Gehende und Radelnde.

Später hat man mit weißem Strich auf der Straße eine schmale Radspur markiert. So ­werden Radelnde besser gesehen. Aber viele fühlen sich trotzdem gefährdet. Denn nur ­wenige Autofahrende wissen, dass sie trotz Strich mindestens 1,50 Meter Abstand halten müssen. Sagen die Gerichte einhellig. Logisch, man pendelt beim Radeln. Manche Radler klemmen sich eine 1,50 Meter lange Schwimmnudel aus Schaumstoff auf den Gepäckträger. Nicht gerade alltagstauglich, wirkt aber.

Es gibt eine einfache Frage, um die Qualität von Radwegen zu checken: Würde man da sein elfjähriges Kind radeln lassen?

Riesige SUV machen Radelnden Angst

Ein riesiger SUV oder ein Sattelschlepper in Ellbogenreichweite – "gruselig", sagt ­Stephanie Krone vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), "die Masse der ­Menschen will so nicht radfahren". Auch Krones Physiotherapeutin nicht, eigentlich eine unerschrockene Frau. Ja, auf dem Gehweg würde sie fahren. "Und warum? Weil der baulich abgetrennt ist vom Autoverkehr", sagt Stephanie Krone.

Solche "geschützten Radstreifen" kann man leicht auf der Straße einrichten – ähnlich wie in New York mit schraffierter Abstandsfläche und Pollern. Aber oft muss man dafür den Autos Platz wegnehmen. Wer wagt das? Deutschland steht da ganz am Anfang. ­Osnabrück hat im September den ersten "geschützten Radstreifen" eröffnet, leuchtend rot, Berlin einen grünen im November. Aber sonst?

Kein Wunder, dass der Radverkehrsanteil stagniert. 2008 haben die Deutschen zehn Prozent ihrer Wege mit dem Rad zurückgelegt, zehn Jahre später sind es elf Prozent.

Zwei Drittel der Menschen würden gern radeln

Dabei würden zwei Drittel der Menschen gerne radeln, das weiß man aus Befragungen. Sie tun es nicht, aus Angst. Was für ein Potenzial für eine Verkehrswende!

Baut die Straßen fuß- und radfreundlich um, und die Menschen werden gehen und radeln. Diese Erfahrung haben schon viele Städte gemacht, die eine Verkehrsachse beruhigt haben. So wie das Limmatquai in Zürich. Wie viele Leute sich auf einmal einfanden!

Menschen sind gern da, wo sie ungestört gehen, stehen, sitzen, gucken können und zwar ohne Konsumzwang. Und wo Leute sind, kommen noch mehr Leute herbei. "Die größte Attraktion der Stadt sind die Menschen", sagt Jan Gehl, der Stadtplaner, der Kopenhagen zu der Stadt gemacht hat, die sie heute ist.

Aber bitte nicht zum fünften Mal die Innenstadt runderneuern und noch mehr Konsumentenrennbahnen anlegen namens Fußgängerzonen! Bitte auch unspektakuläre Straßen gut gestalten!

Denn wie sieht es in den nicht so prominenten Stadtteilen aus? Viele Gehwege sind zu eng. Schließlich sind die meisten Menschen mit "Anhang" unterwegs – mit Taschen, Kinderwagen, Hund, Schirm, ­Rollator, ­Rollkoffer. Da braucht man mindestens 90 Zentimeter. Damit zwei Menschen aneinander vorbeikommen und der eine nicht mit dem Ellbogen in den Verkehr ragt und der andere sich nicht die Hand an der Hauswand aufschürft, sind 2,50 Meter Gehwegbreite nötig. In Nebenstraßen. Deutlich mehr natürlich in Geschäftsstraßen.

Die meisten Gehwege sind zu schmal

So steht es in den Richtlinien für die An­lage von Stadtstraßen. Die stellen den Stand von Wissenschaft und Technik dar, man sollte sich also tunlichst daran halten. "Aber die meisten Städte und Kommunen verstoßen dagegen", sagen die Fachleute vom Verein FUSS.

Und viele Städte dulden auch noch das Parken auf Gehwegen. In Darmstadt möchte der kleine Verein "Wegerecht" nun die Stadt verklagen – weil sie zum Beispiel vor einer Schule das Gehwegparken erlaubt. Jeden Tag zwängten sich dort Hunderte Kinder und Eltern durch die nur 1,30 Meter schmale Furt zwischen parkenden Autos und Schulmauer.

"Wir haben viele Beschwerden einge­reicht, jetzt ist Konfrontation notwendig", sagt Vereinssprecher David Grünewald, 28. Der ­Maschinenbaustudent selbst ist gar nicht so betroffen, er radelt viel, "aber man muss ja auch kein Wal sein, um sich gegen Walfang einzusetzen".

Aber wo sollen die Autos denn ­sonst parken? Das fragten auch in ­Karlsruhe viele Autobesitze-rinnen und -besitzer, als die Stadt ankündigte, illegales Gehwegparken nicht mehr zu dulden. "Fakt ist: Es gibt keinen Rechtsanspruch auf einen kostenlosen Stellplatz im öffentlichen Raum", teilte die Stadt mit. Es sei viel Leerstand in Hinterhöfen und Quartiersgaragen. Es gab keine Katastrophe. Man parkt jetzt zum Beispiel ganz legal in einer breiteren Nachbarstraße und geht ein paar Schritte zu Fuß. Oder auf dem Hof. "Manche Leute waren einfach zu bequem, das Hoftor zu öffnen, wo sie einen Parkplatz haben", erzählt Günter Cranz vom Ordnungsamt. Nun sehe man viel mehr Menschen mit Rollstuhl und ­Rollator in der Stadt.

Den Autos Platz oder Tempo wegzunehmen, das scheint jedes Mal einen Aufschrei zu geben. Wobei: Es schreien immer nur einige, die halt sehr laut. So erlebt es zum Beispiel Horst Wohlfarth von Alm vom Berliner Verkehrs­senat, wenn er in Bürgerveranstaltungen sitzt. "Leute, die es gut finden, dass weniger schnell gefahren wird, die sagen während der ganzen Veranstaltung nichts, aber hinterher sprechen sie einen persönlich an: Gut, dass Sie das ­machen!"

Autofahrende sollten sich über jede Radlerin freuen

Eigentlich könnten Autofahrende dankbar sein. Roland Stimpel, Sprecher von FUSS e. V., kann aus dem Stegreif eine Rede an Leute in Autos halten: "Liebe Autofahrer, wenn ihr flucht über Leute, die aus einem Bus quellen, über Radler und Fußgänger – seid froh über jeden, der nicht im Auto sitzt! Säßen die nämlich alle auch im Auto, kämt ihr überhaupt nicht mehr voran." Daran würden übrigens auch Elektroautos nichts ändern – die Menge bliebe ja gleich.

Und wie geht es jetzt weiter in Deutschland? Wird das was mit der Verkehrswende? Verhaltenen Optimismus hört man, wenn man herumfragt, es gebe eben höchstens zaghafte Anfänge. "Wenn ich sehe, wie die Bundesregierung der Autoindustrie hinterherläuft", sagt zum Beispiel Gerd Lottsiepen vom Verkehrsclub Deutschland (VCD).

Das Umweltbundesamt hat jetzt einfach mal einen Aufschlag gemacht und eine "Fußverkehrsstrategie" entworfen, für den Rückbau der autogerechten Städte. Mit sehr viel weniger Autos: 150 statt wie derzeit 450 pro 1000 Großstadteinwohnern und -einwohnerinnen.

Im jungen Stadtteil Freiburg-Vauban ist man schon fast so weit: 190 Autos pro 1000 Leuten. Wer ein Auto hat, stellt es in den Parkhäusern am Rand des Quartiers ab. Fahr­­räder stehen nicht im Keller, sondern direkt vor der Haustür. Überall springen Kinder herum. Die Wohnungen in diesem Viertel sind begehrt.

 
 
 
 
 

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