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Merkwürdig aktuell: Gedanken aus dem Jahr 1947 [1]

Chefredakteur Arnd Brummer: Aus Sündenböcken wieder Menschen machen
November 2014

Sven Paustian

Arnd Brummer [2]

Zufällig habe ich gerade in alten Unterlagen geblättert und bin dabei auf einen Text von Ignazio Silone aus dem Jahr 1947 ge­stoßen. Silone, 1900 geboren, war ein vom Stalinismus enttäuschter Linker und ein kirchenskeptischer, doch überzeugter Christ. 1930 ging er in die Schweiz ins Exil, kehrte nach dem Weltkrieg in die italienische Heimat zurück, wurde zur moralischen Instanz, ­ ließ sich vor keinen Karren spannen. Er starb 1978.

Der Text, adressiert an eine selbstzufriedene Nachkriegsgesellschaft: „Die Gerechtigkeit wird jeweils dann angerufen, wenn es uns bequem ist. Es liegt aber auf der Hand, daß die Krise unserer Zeit nicht ernsthaft verstanden werden kann, wenn wir nicht ihren allgemeinen Charakter sehen. Keine einseitige Verdammung von Sündenböcken kann in unserm Bewußtsein das Gefühl einer gemeinsamen Schuld zum Schweigen bringen.“ Und weiter: „Das Heil liegt ausschließlich in einer ehrlichen, geraden, unmittelbaren, beständigen Treue zur tragischen Wirklichkeit, der Basis der menschlichen Existenz. Der Archetyp dieser Wirklichkeit ist für die Christen das Kreuz. Im Leben des einzelnen ist es die Unruhe des Menschenherzens, die kein Fortschritt, keine politische Veränderung je stillen kann. Auf der Ebene der Geschichte ist es das Leid der Armen und trägt verschiedene Namen . . . Aber es ist eine schmerzliche Wirklichkeit, die einzige wirklich ökumenische, alles umspannende Wirklichkeit der menschlichen Geschichte.“

Den Text weggelegt. Gedanklich nach Syrien gereist, in die Ukraine, zu den Ebola-Toten in Liberia und Sierra Leone. Und dann Silone zugerufen: Mann Gottes! Wie recht hattest du vor 67 Jahren! Und wie recht hast du noch immer. Es wird nicht besser, es wird anders. Und dann höre ich im Radio die Geschichte aus Dinslaken-Lohberg. Von dort aus zogen junge Männer als Kämpfer für die IS-Terroristen nach Syrien und in den Irak. Einer von ihnen, Philipp mit Namen, soll bei einem Selbstmordattentat mit einem Lkw voller Sprengstoff zwanzig Kurden und sich selbst im Nordirak getötet haben. Ein anderer, Mustafa, posierte auf einem Video mit einem abgeschlagenen Kopf.

Es genügt nicht, mit den Fingern auf die Bösen zu zeigen

Etwa einhundert der vielleicht 400 deutschen Dschihadisten sind wieder im Land. Viele gelten als potenzielle Terroristen. ­Einige aber sind völlig desillusioniert. Auch vier Jungs aus Lohberg zählen zu ihnen. Und das Erstaunliche: Die örtliche DITIB-Moschee, die Kirchengemeinden, die Stadt Dinslaken haben sich zusammengetan und unterstützen die Familien der jungen Männer bei deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft – von medizinischer Betreuung bis hin zur Jobsuche.

Die deutschen Türken oder türkischen Deutschen in Lohberg „kehren nichts unter den Teppich“, wie Özkan Yildiz vom Moscheeverein sagt. Sie haben zusammen mit christlichen und politischen Partnern einen „Appell gegen Hass“ unterzeichnet, bekennen sich zur gemeinsamen Verantwortung. Hörst du das da oben, Silone?

„Wir sind das Volk“, hieß die Parole in Leipzig oder Berlin vor 25 Jahren, mit der die Friedliche Revolution die Diktatur in der DDR beendete. Drei Jahre später skandierten in Rostock-Lichtenhagen Hunderte von Rechtsextremen unter dem Applaus von 3000 Menschen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“, das Ziel ihrer Parolen und Brandfackeln: ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR und die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber.

Wie damals in Rostock gilt heute in Dinslaken und anderswo: Es genügt nicht, mit den Fingern auf die Bösen zu zeigen. Die Anerkennung der schmerzlichen Wirklichkeit im Sinne Ignazio Silones bedeutet: Angegriffene, Arme und Kranke schützen, aber auch denjenigen, die sich in Gewalt und Feindseligkeit verirrt haben, einen Weg zurück in Liebe und Hoffnung zu öffnen. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes „verdammt“ schwer. Die Zeit ist reif für eine Ökumene der Einsicht in die unauflösliche Tragik menschlicher Existenz. Und Muslime, die Toleranz, Gewalt­freiheit und Nächstenliebe aus dem Islam herleiten – wie in Dins­laken –, sind uns Brüder und Schwestern.


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