Religion für Einsteiger: Soll man sich wirklich selbst lieben? [1]
Michael Ondruch
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Es ist einer der Kernsätze des Alten Testaments. Man soll in seinem Verhalten keinen Unterschied machen zwischen du und ich. Was für mich gut ist, das soll auch anderen zustehen. „Wie dich selbst“, so soll man andere lieben. Geht es hier auch um Selbstliebe? Der Zusammenhang, in dem das Gebot der Nächstenliebe im 3. Buch Mose 19 steht, legt das gerade nicht nahe: „Du sollst in deinem Weinberg nicht die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und vor den Blinden kein Hindernis legen. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Es geht um das gute Tun, nicht um Liebe als ein Gefühl. Sinngemäß wird ja gesagt: Behandle deinen Nächsten so, wie du in seiner Situation selbst behandelt werden willst, mit Respekt und Großmut. Die Goldene Regel mit anderen Worten.
Menschen ohne Selbstachtung können sich und andere kaum realistisch einschätzen.
Jesus von Nazareth erklärte die alttestamentlichen Gebote der Gottes- und Nächstenliebe zum höchsten Gebot. Aber er sagte auch: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein“ – so zitiert ihn das Lukasevangelium (14,26).
Auch hier geht es nicht um Gefühle, sondern um das richtige Tun. Blutsbande und Eigeninteressen werden schroff zurückgewiesen. Der Jünger soll Christus gleichwerden, der sich selbst entäußerte, Knechtsgestalt annahm, sich erniedrigte bis zum Tod am Kreuz (Philipperbrief 2,7). Märtyrer, Asketen und Mönche folgten diesem Aufruf und prägten Techniken der Selbstkultivierung: die Beichte, die Meditation, das innere Zwiegespräch im Gebet.
Heutzutage ist es eine Binsenweisheit, dass nur derjenige lieben kann, der sich auch selbst annimmt. Menschen, denen jegliche Selbstachtung fehlt, können nicht zu ihren Stärken und Schwächen stehen. Ebensowenig können sie andere realistisch einschätzen und annehmen.
Selbstverleugung versus Selbstliebe? Seit der Zeit Jesu hat sich vieles verändert. Wer heute von Liebe spricht, meint vor allem das Gefühl und weniger die Tat. Überdies denkt er viel mehr über sich und seine Empfindungen nach, als es die Menschen zu biblischen Zeiten taten. Im Laufe der Jahrhunderte ist Innerlichkeit an die Stelle von Götter- und Geisterwelten getreten. Der Mensch erklärt sich selbst zum Thema, in Beichtgesprächen, Tagebüchern und Meditationsübungen.
„Selbstliebe ist das erste Gefühl eines Kindes; das zweite, welches diesem entspringt, ist die Liebe zu denen, welche seine Umgebung bilden.“ Der schweizerisch-französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau wies damit auf etwas Wichtiges hin: Liebe zu anderen setzt innere Stabilität und Selbstachtung voraus.
Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe auf, sie setzt sie voraus.
Erst der dänische Philosoph Sören Kierkegaard bezog Rousseaus Erkenntnis auf das biblische Gebot. „Wie dich selbst“, betonte er, so solle man seinen Nächsten lieben. Mit diesem Gebot werde die Selbstliebe an Nächstenliebe gebunden. Beides sei falsch: Dass man sich „selbstisch liebt“, also in Narzissmus verharrt, und dass man „selbstisch sich selbst nicht auf die rechte Weise lieben will.“
Am Anfang aller Liebe steht gleichwohl die Erfahrung, geliebt zu werden. Deswegen ist Elternliebe wichtig. Nur ist sie nicht immer entscheidend. Manche Menschen entwickeln Selbstachtung, obwohl ihre Eltern sie emotional ablehnten. Von „Resilienz“ sprechen dann die Psychologen. Es gebe eine Gottesliebe unabhängig von der der Eltern, sagen die Theologen.
Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe auf, sie setzt sie voraus. Und sie ermahnt, sich nicht von Eigeninteressen dominieren zu lassen. Jesus von Nazareth schätzte das alte Gebot hoch. Narzissmus wies er zurück, ebenso, nur der eigenen Familie verpflichtet zu sein. Er forderte auf, anderen unabhängig von familiärer, ethnischer oder sonstiger Bindung beizustehen. Wer das tut, der liebt seinen Nächsten.