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Einteilung in zwei Geschlechter schadet [1]

Weder Mann noch Frau
Damenbart und Männer­busen: Heinz-Jürgen Voß ­erklärt, warum die Einteilung in zwei Geschlechter Schaden anrichtet.
September 2013

Hana Pesut

Hanna Lucassen [2]

chrismon: Beim Standesamt müssen Eltern intersexueller Babys nicht mehr "weiblich" oder "männlich" ankreuzen. Ist das sinnvoll?

Heinz-Jürgen Voß:

Es geht noch nicht weit genug, weil die Geschlechtsangabe in solchen Fällen offenbleiben muss. Das ist ein Zwangsouting. Besser wäre, neben "männlich" und "weiblich" auch "andere Geschlechter" anzubieten.

Wie viele Geschlechter gibt es denn?

Unzählige. Das Geschlecht wird ja auf vielen Ebenen geprägt: durch Chromosomen, Hormone, Geschlechtsorgane, das Aussehen – und nicht zuletzt die Art, wie ich erzogen werde, mich kleide und mich selbst zuordne. Auf jeder Ebene gibt es verschiedene Ausprägungen. Es trifft die Realität nicht, nur in  "männlich" und "weiblich" einzuteilen.

Heinz-Jürgen Voß

Heinz-Jürgen Voß [3], 33, forscht zu Geschlechtertheorien. Er studierte Biologie, wurde in Sozialwissenschaften promoviert und habilitiert sich nun.
[4]


Ist das der neueste Stand der Forschung?

Bis in die 1920er Jahre sprach man von ­Geschlechtervielfalt. Mit den Nazis kam die Theorie einer weitgehend klaren biologi­schen Zweiteilung, die auch immer noch im Biologiestudium vermittelt wird, obwohl die aktuelle Forschung längst weiter ist. Solche einfachen Thesen machten mich stutzig, und ich erkannte, dass die vermeintlich natür­liche Zweiteilung viel Leid mit sich bringt.

Inwiefern?

Zum einen werden geschlechtlich "untypi­sche" Kinder mit Gewalt in die vermeint­lich natürliche Ordnung eingepasst, mit ­geschlechts­zuweisenden Operationen, Hormonen und zig Arztbesuchen. Zum anderen verfestigt die radikale Zweiteilung nur wieder hierarchische, gewaltsame Strukturen: Gewalt gegen Frauen, Zwangsprostitution, ungleiche Löhne.

Aber können Sie sich wirklich eine Gesellschaft ohne Zweiteilung vorstellen?

Ja. Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung.  

Sind die Leute außerhalb der Uni empfänglich für solches Denken?

Ich halte viele Vorträge, auch in Jugendclubs und auf dem Kirchentag. Bisher war das Publikum sehr offen und interessiert. Außerdem ergeben sich manchmal interessante Gespräche, wenn ich in E-Mails als Anrede
nicht "Liebe Frau Lucassen" schreibe, sondern "Lieb* Hanna Lucassen". Oder von der "Soziologin Stefan" spreche. Das sind dann kleine Stolpersteine.

Über die in zehn Jahren keiner mehr stolpern wird?

So weit werden wir wohl nicht sein. Aber ich hoffe, dass dann Kinder, die weder Junge noch Mädchen sind, in Ruhe aufwachsen können, ohne gewaltsame geschlechtszuweisende Eingriffe.


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Links
[1] https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/weder-mann-noch-frau-19543
[2] https://chrismon.evangelisch.de/personen/hanna-lucassen-5860
[3] http://www.heinzjuergenvoss.de/
[4] https://chrismon.evangelisch.de/personen/heinz-juergen-voss-19542