Religion für Einsteiger: Ist "Auge um Auge, Zahn um Zahn" moralisch? [1]
Foto: Michael Ondruch
Es ist eine von Journalisten geliebte Redewendung, wenn es um unerbittlichen Streit und Vergeltung geht. Zum Beispiel zwischen Israel und Palästina. „Auge um Auge – der biblische Krieg“ titelte „Der Spiegel“ einmal, um die Unversöhnlichkeit und die Rachegelüste auf beiden Seiten anzuprangern. Und auch die Erschießung Osama Bin Ladens durch US-Soldaten im Mai 2011 ist für das Magazin Konsequenz dieser Rache-Regel. In politischen Reden taucht dieses Zitat nicht selten auf, denn es garantiert besondere Aufmerksamkeit, sind die Worte doch durch die Autorität der Bibel gedeckt.
Nach landläufiger Meinung berechtigen die jüdischen Rechtsnormen der Bibel jeden, dem ein Auge oder ein Zahn ausgeschlagen wurde, dies zur Vergeltung auch bei dem Täter zu tun. Angeblich stehe das im Buch Exodus/2. Buch Mose, im 21. Kapitel: „Wenn es ein tödlicher Unfall ist, gibst du Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß...“ Aber die meisten werden den jüdischen Satz durch eine Bemerkung Jesu aus der sogenannten Bergpredigt kennen: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. – Ich aber sage euch: ... Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ (Matthäus 5,38f.).
Die Geschichte dieses Satzes ist eine Geschichte von Missverständnissen. Das schlimmste: „Die Juden“ suchen blutige Vergeltung, während „die Christen“ einen friedlichen Ausgleich wollen. Das Zitat Jesu aus der Bergpredigt wird von vielen herangezogen, die gezielt antijüdische Ressentiments streuen. Und es wird von anderen gedankenlos verwandt, was aber ebenfalls eine verheerende Wirkung entfaltet. Dabei ist das Anliegen beider Aussagen – das des jüdischen Rechts und das der Bergpredigt – sehr ähnlich: Sie sollen zur Deeskalation beitragen, zum Beispiel die Blutrache eindämmen. Es soll nicht gehen wie in der Mordgeschichte von Kain und Abel, in der es heißt: „Kain soll siebenmal (!) gerächt werden...“ Die jüdische Rechtsnorm „Zahn um Zahn“ begründet überhaupt keine Rache oder einen Rechtsanspruch, dem Verursacher einer Körperverletzung den gleichen Schaden zuzufügen. Sie hat einen anderen Sinn: Sie soll zum Rechtsfrieden beitragen.
Kein jüdisches Gericht ordnet körperliche Vergeltung an
Sie appelliert an den Verursacher einer Gewalttat, dem Geschädigten eine Kompensation anzubieten. Das macht die Bibelstelle anhand konkreter Fälle deutlich: zum Beispiel, wenn eine Schwangere bei einem Handgemenge ihr Kind verliert – Entschädigung statt Vergeltung. Dass es nicht um Rache geht, zeigt sich auch in der jüdischen Geschichte. Es hat kein einziges rabbinisches Gericht gegeben, das eine körperliche Vergeltungsstrafe zugelassen hat, erst recht nicht, einem Menschen ein Auge auszuschlagen. Der in Deutschland und Israel viel beachtete Rabbiner Dawid Bollag schreibt: „Jedem rabbinischen Richter ist klar, was ‚ajin tachat ajin‘ (Auge für Auge) bedeutet: Der Angeklagte muss die Verletzung, die er einem anderen zugefügt hat, finanziell entschädigen.“ Rechtssystematisch ist „Auge um Auge“ also keine Regel des Strafrechts, sondern des bürgerlichen Rechts, also der Haftung, der Wiedergutmachung. Der Vergeltungsgedanke hat hier keinen Platz.
Auch eine antijüdische Interpretation des „Auge um Auge“-Satzes durch Christen ist ungerecht, weil nicht nur im Neuen, sondern auch im Alten Testament das Liebesgebot steht: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose 19,18). Manche Theologen lesen die Rechtsvorschrift noch einmal anders (und wieder nicht im Sinne einer körperlichen Vergeltungsstrafe): Nicht die Menschen, sondern Gott wird die Gerechtigkeit herstellen. Auch diese Lesart ist biblisch. Sie bezieht sich allerdings auf eine spätere, redigierte Version der Norm, als die sogenannte Weisheitsliteratur die Regel ins Metaphorische veränderte. Auch wenn der Wortlaut des Satzes „Auge um Auge“ etwas anderes vermuten lässt – er ist ein Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden.