Was machte Großvater in der Nazizeit? Eine Anleitung zur Recherche [1]
Thomas Born/mauritius
Endlich Klarheit haben!
Was haben meine Eltern, Großeltern, Onkels, Tanten zur Zeit der Nationalsozialismus gemacht? Waren sie verstrickt in das Nazisystem? Waren sie gar an Verbrechen beteiligt? Das Interesse an diesen Fragen lässt nicht nach und steigt in der Kinder- und Enkelgeneration jetzt sogar noch einmal an. Sie spüren: Da ist was nicht erledigt.
Woran liegt das gestiegene Interesse? Zum einen daran, dass viele ZeitzeugInnen sterben, dass sich also ihre (erwachsenen) Kinder endlich frei fühlen zu recherchieren; die Enkelgeneration hat ohnehin eine größere emotionale Distanz, was solch eine Recherche erleichtert.
Das gestiegene Interesse hat aber vor allem mit der neuesten Geschichtsforschung zu tun: Die wendet nämlich seit den 90er Jahren den Blick von den Spitzen des NS-Systems immer mehr in Richtung der "kleinen" Täter, beschäftigt sich also mit den gewöhnlichen Deutschen, den Wehrmachtssoldaten, den Polizisten, den Verwaltungsangestellten. Den Anfang machten die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" und die Bücher von Christopher R. Browning oder Daniel Goldhagen (s.u. Buchtipps).
Wie man suchen kann: ein Beispiel
Welche verschlungenen Wege man für eine Recherche gehen muss, welche Widrigkeiten es gibt, welche Überraschungen auch und was am Ende doch rätselhaft bleibt, erzählt beispielhaft die chrismon-Geschichte „Finde Haika!“ [3]. In diesem Text fragt sich die Autorin, wieso ihr Opa eine Zwangsarbeiterin aus der Ukraine im Haushalt hatte, was der Opa selbst eigentlich so getrieben hat in der NS-Zeit, was an der erzählten Familiengeschichte stimmt und was nicht – und was aus Haika geworden ist.
Vorsicht vor falschen Erwartungen
1. "Das geht schnell." – Nein, das ist selten. Eine Recherche zur eigenen Familie in der NS-Zeit dauert fast immer länger als zwei Monate. Man sollte mit mindestens einem Jahr rechnen. Man wartet ja schon Wochen, bis ein Archiv antwortet.
2. "Am Ende weiß ich alles." – Eher nicht. Meist weiß man am Ende immer noch nicht, wie der Verwandte dachte – wie er zum Nationalsozialismus stand, ob sich seine Einstellung über die Jahre geändert hat….
3. "Am Ende weiß ich doch nichts." – Auch wenn man am Ende meist nicht weiß, was ein Verwandter konkret getan hat, kann man es sich – mit einem Trick – ausmalen. Der Trick heißt: lesen, lesen, lesen. Und zwar Bücher zum Umfeld. Zum Beispiel Fachliteratur über einzelne Dienststellen des NS-Apparates, über einzelne Feldzüge, über Verbrechen an bestimmten Bevölkerungsgruppen usw. So kann man das Dunkelfeld erhellen und den Verwandten darin verorten.
Erster Schritt: das Familienwissen ausschöpfen
Fahnden nach Geschichten sowie Dokumenten jeder Art, nach Aktenordnern, Briefen, Ausweisen, Fotos!
Es gibt fast immer mehr an Erzählungen, Wissen und Dokumenten, als man denkt oder als die Angehörigen zunächst erinnern. Dazu jeden, wirklich jeden der letzten noch lebenden alten Verwandten befragen, auch die, mit denen man noch nie Kontakt hatte oder nicht mehr. Fast immer haben sie wertvolle Hinweise beizusteuern. Und so viele Zeitzeugen gibt es ja heute nicht mehr. Alte Menschen freuen sich über Besuch, Telefonate, Interesse. Aber auch gleichaltrige Vettern und Cousinen könnten im (ererbten) Besitz von Dokumenten, Briefen und Fotos sein!
Unbedingt bei allen mehrfach nachfragen! Nach Geschichten, aber auch nach Dokumenten, Fotos… Die erste Antwort ist oft: "Nee, ich hab da nichts." Bis jemand anfängt, doch nochmal nachzuschauen in Schränken und Schachteln, das kann dauern, denn viele Menschen scheuen vor einer Beschäftigung mit Vergangenem zurück, vor dem Wühlen in Kisten und Kästen sowieso. Denn wollte man die nicht schon lang mal aufgeräumt haben?
Häufig werden sie dann doch fündig. Denn solch offizielle Dokumente wie Personalausweis ("Kennkarte"), Wehrpass, "Ariernachweis", Entlassungschein, Rentenanträge werfen die meisten Leute nicht einfach so weg.
Manchmal findet sich sogar ein "Ariernachweis" (offiziell: Ahnentafel) – so was hat man gern aufbewahrt, weil darin der Stammbaum dokumentiert ist. "Ariernachweise" wurden übrigens nicht zentral in einer Behörde gesammelt, sondern verblieben immer im persönlichen Besitz. Vorsicht: Die Angaben nicht unkritisch übernehmen. Denn einen "Ariernachweis" über mehrere Generationen zurück zu erstellen, war für viele Betroffene und Pfarr- und Standesämter, die nach Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden gefragt wurden, überaus lästig. Nicht selten sind die Angaben ungenau recherchiert, schlichtweg falsch oder sogar bewusst gefälscht, um die "arische" Abstammung nachweisen zu können.
Wie führe ich solche heiklen Gespräche?
Um nicht gleich abgeblockt zu werden ("Opa war kein Nazi! Der war ein sauberer Soldat!"), sollte man Fragen nach Weshalb, Warum, Wieso vermeiden. Man will ja nicht Rechtfertigungen hören ("Jeder musste mitmachen!"), sondern Erzählungen. Dazu muss man verleiten, mit Erzählaufforderungen: "Wie war das denn damals, als ihr nach Berlin gezogen seid…?" "Als du in Hannover dein Pflichtjahr angefangen hast…?"
Man fragt zunächst nicht direkt nach dem Vorfahr, sondern geht mit dem/der GesprächspartnerIn erst einmal in deren eigene Vergangenheit zurück. Das könnte sich etwa so anhören: "Sag mal, und dann bist du in Hanau zur Schule gegangen – musstest du da weit gehen jeden Morgen?" "Wer saß damals alles mit am Abendbrottisch?" "Kannst du dich auch an ein Fest erinnern?" Erinnerungen kommen vor allem dann zurück, wenn man sich an sinnlichen und leiblichen Erinnerungsfragmenten entlanghangelt. (Das ist ein Tipp der Göttinger Professorin Gabriele Rosenthal [4], die eine Methodik der narrativen Biographieforschung [5] entwickelt hat.)
Wahr oder unwahr? Kaum jemand kann sich nach Jahrzehnten noch genau an eine Begebenheit erinnern; die Erinnerung wird überlagert von späteren Einschätzungen; manche der angegebenen Daten sind falsch; Ereignisse aus verschiedenen Jahren werden erzählend zu einem einzigen Ereignis verschmolzen; usw. Aber komplett falsch sind Erzählungen auch selten.
Bei wichtigen Familienerzählungen jeden Satzteil einzeln recherchieren! Probeweise auch ersetzen durch andere Begriffe und Daten. (Eigenes Beispiel: "Der Opa sollte Zwangsarbeiter ausheben, das wollte er nicht." Tatsächlich sollte er unter den russischen Kriegsgefangenen künftige Spione rekrutieren.)
Nächster Schritt
Alles aufschreiben, was man in der Familie erfahren und gefunden hat. Geburtsdatum, alle Wohn- und Aufenthaltsorte, Ehepartner, Berufskollegen, Arbeitgeber, die Namen von Freunden, Kollegen, Berufe, Vereinszugehörigkeiten, Interessen, überlieferte Erinnerungen, Briefe…
Wichtigste Frage ist dabei: Wo war dieser Mensch überhaupt? Dann kann man viel gezielter weiterforschen, etwa in Landesarchiven.
Problem: Ich kann das nicht lesen, weil Sütterlinschrift
Manche der alten Dokumente sind handschriftlich verfasst, in Sütterlin. Was tun?
- Einen alten Menschen ums mündliche Übersetzen bitten (Nachbarn, Bekannte, Verwandte) – die freuen sich!
- Eine der elf ehrenamtlichen Sütterlinstuben [6] in Deutschland um Übertragung bitten (kostet nichts, aber über Spenden freut man sich).
Erste Orientierung
Überaus wertvoll für private GeschichtsforscherInnen ist die Online-Wissenssammlung Wikipedia [7]. Denn über Wikipedia findet man erste Infos zu NS-Organisationen, zu Kriegsschauplätzen, und, sehr wichtig, man findet die korrekten Begrifflichkeiten. Zum Beispiel "Spruchkammerakte" oder "Generalplan Ost [8]".
Lesen, lesen, lesen!
Bücher braucht man, um sich detailliertes Hintergrundwissen anzueignen und das Umfeld/Wirkungsfeld des Vorfahren auszuleuchten. Und es gibt inzwischen eine Menge Fachliteratur zu den konkreten Aktionsfeldern des NS-Staates: deutsche Besatzungsherrschaft, Polizeiapparat, Wehrmacht, auch nachgeordnete Einheiten von Militär und Zivilverwaltung.
Mit den richtigen Begriffen (die man z.B. mithilfe von Wikipedia-Artikeln gefunden hat) kann man weitersuchen – zum Beispiel nach Buchtiteln, etwa auf Amazon. Dort kann man sich oft mit "Blick ins Buch" das Inhaltsverzeichnis ansehen und also checken, ob dieses Buch hilfreich für die eigene Recherche sein könnte .
Die Bücher kann man gebraucht kaufen (zum Beispiel in Antiquariatsportalen wie "Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher ZVAB [9]"), oder man bestellt sie in eine Bibliothek zum Lesen. Über die Buch-Suchmaschine KVK [10] kann man deutschlandweit nach einem Titel suchen oder nach Büchern zu einem Thema; es gibt auch die Möglichkeit der Fernleihe. Zeitschriften kann man über die Zeitschriftendatenbank [11]suchen. Ein bisschen Geduld braucht man allerdings, um sich in diese Suchkataloge reinzufuchsen.
Problem I: Mich macht das krank
Solche Recherchen sind aufwändig und nervenaufreibend, können sogar (vorübergehend) die Gesundheit beeinträchtigen. Schwer auszuhalten sind zum Beispiel:
- der Widerstand anderer Familienmitglieder;
- das Suchen in alle nur möglichen Richtungen, damit verbunden immer wieder Verlust der Übersicht;
- das Lesen grauenvoller Dokumente über Kriegsverbrechen;
- der feindselige und kalte Tonfall von Dokumenten aus der NS-Zeit;
- die gleichzeitige Suche nach entlastendem wie belastendem Material – dass man sich den Vorfahr als guten Menschen wie als Verbrecher vorstellen muss;
- die gewisse Einsamkeit, wenn man sich intensiv nur mit Vergangenem beschäftigt.
Es hilft, sich eine Freundin oder einen Verwandten zu suchen, der/die sehr interessiert ist am Fortgang der Recherche, aber emotional nicht so nahe dran. Wichtig: Die Recherche auch mal ruhen lassen. Sich anderen Dingen und vor allem Menschen widmen.
Problem II: Die Familie findet dieses "Schnüffeln" nicht gut
Es ist fast immer eine einzelne Person in einer Familie, die nun endlich wirklich wissen will, was ein Vorfahr "damals" gemacht hat, und die die Recherche auf sich nimmt. Das gibt oft Ärger mit anderen Familienangehörigen – weil das positive Bild eines Vorfahr in Frage gestellt wird. Die Reaktion kann bis zum Beziehungsabruch führen. Der allerdings nicht von Dauer sein muss.
Es hilft, sich zu vergewärtigen, dass es richtig ist, so viele Jahrzehnte danach es "genau" wissen zu wollen. Denn sonst verfestigt sich die Mär, dass die Nazis immer nur die anderen waren. Viele Nachforschende sehen sich verpflichtet, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, sie wollen sich der Verantwortung stellen.
Außerdem hilt es, Verwandte über heikle Rechercheergebnisse nicht per Brief zu informieren, sondern im persönlichen Gespräch. Denn es ist eine große Herausforderung, sich vorzustellen, dass jemand, den man liebt, auch schlecht gehandelt haben könnte. Menschen müssen nun mal nicht grundsätzlich böse sein, um Schlechtes tun zu können. Es reicht, dass jemand die eigenen moralischen Werte nicht für alle Menschen gelten lässt, sondern nur für "Arier" – nur mal als Beispiel. Wenn jemand aus der nunmehr sehr alten Vorgängergeneration "davon" partout nichts hören will, sollte man das respektieren.
Problem III: Ich versteh das alles nicht
Historische Dokumente sind zu einem anderen Zweck geschrieben als dem, einer Enkelin Jahrzehnte danach etwas zu erklären. Nehmen wir nur die Kriegstagebücher einzelner Divisionen, die Rechenschaftsberichte von SS-Abteilungsleitern an ihre Chefs, zeitgenössische Zeitungsberichte…
Um solchen Dokumenten eine Antwort auf die eigenen Fragen entnehmen zu können, brauchen Laien eine so genannte "Kontextualisierung", also Antwort auf Fragen wie: "War das damals üblich, dass…?" "Was verbirgt sich hinter Floskeln wie der, jemand sei 'freigegeben zur Dienstleistung an der Front'?" "Wie viel Handlungsspielraum hatte ein Befehlsempfänger in dieser oder jener Situation?"
Viel drumherum lesen hilft. Sich mit anderen Leuten treffen, die zur Familie in der NS-Zeit recherchieren, hilft. Und man kann einen Historiker, eine Historikerin beauftragen mit Teilrecherchen und vor allem (!) mit der Interpretation von bestimmten Funden.
Unterstützung I: HistorikerInnen
Sehr zu empfehlen ist es, die Dienste von selbständigen HistorikerInnen in Anspruch zu nehmen, vor allem für die Recherche in Archiven. Sie kosten meist nicht mehr als eine Handwerkerstunde. Deren Profirecherche kommt letztlich unter Umständen sogar preiswerter, als selbst zu Archiven zu reisen oder sich das gesamte Tagebuch einer Division teuer kopieren zu lassen, weil man nicht weiß, wie man die richtigen Seiten findet…
Ich selbst, die Autorin des chrismon-Textes "Finde Haika! [3]", hatte zwei Historiker beauftragt mit der Recherche im Bundesarchiv. Hauptsächlich Benjamin Haas [12] in Freiburg, der schnell und transparent arbeitet (auch kostenmäßig transparent), umfassend sucht und mir im Gespräch hilfreiche Einschätzungen gab. Eine Ergänzungsrecherche hatte der Historiker Kristian Petschko übernommen.
Das Bundesarchiv hat eine Liste von Recherchediensten [13] auf seiner Homepage, gegliedert nach den Standorten des Bundesarchivs. Viele Adressen sind jedoch für die hier besprochenen Zwecke nicht nützlich, weil sie z.B. nur Firmengeschichte recherchieren.
Wer nicht fündig wird, darf gern den Archivar der Gedenkstätte Topographie des Terrors [14] um geeignete Adressen bitten: Ulrich Tempel, Tel. 030-254509-27, Mail: tempel@topographie.de [15]
Unterstützung II: Seminare [15]
Die [15]KZ-Gedenkstätte Neuengamme [16] bietet halbjährlich ein Rechercheseminar sowie ein Gesprächsseminar an: "Ein Täter, Mitläufer, Zuschauer, Opfer in der Familie? Rechercheseminar zu Familiengeschichte und Familiengeschichten". Aktuelle Termine findet man im Veranstaltungskalender [17], oder man ruft die Öffentlichkeitsarbeiterin an: Dr. Iris Groschek, Tel. 040/ 428131521
- Das Rechercheseminar stellt Möglichkeiten vor, über Täter, Opfer und Orte der Verbrechen im Nationalsozialismus in Archiven, im Internet, in Datenbanken und Onlinekatalogen zu recherchieren.
- Im Gesprächsseminar sprechen die TeilnehmerInnen darüber, was es heißt, einen NS-Täter in der eigenen Familie zu haben und auf die Suche nach unliebsamen Wahrheiten zu gehen. Die TeilnehmerInnen sind zwischen etwa 30 und 70 Jahre alt, Kinder und EnkelInnen sind gleichermaßen vertreten. Die Bandbreite der Tätigkeit ihrer Vorfahren reicht von der BDM-Führerin bis zum Teilnehmer eines Tötungskommandos im Ostfeldzug oder zum KZ-Wachmann. Es kommen auch Menschen, die bislang nur eine Ahnung haben oder sehr vereinzelte Anhaltspunkte. Einige TeilnehmerInnen sind zum wiederholten Mal dabei und nehmen eine Art Mentorenfunktion wahr. Es gibt ausreichend Gelegenheit, die eigene Geschichte zu schildern und die Emotionen im Umgang damit.
Kontaktanfragen: Dr. Oliver von Wrochem, Telefon: 040-428131515, Mail: Oliver.vonWrochem@kb.hamburg.de [18]
Auch ein Materialienheft zur Familienrecherche [19] hat die Gedenkstätte zusammengestellt, für 5 € zuzügliche Porto zu bestellen.
Die Stiftung Topographie des Terrors [20] bietet etwa zweimal im Jahr ein Seminar an mit dem Titel "Familienbegegnungen. Methoden familiengeschichtlicher Recherche". Die Teilnehmenden lernen, sich in die Arbeitsweise von Archiven reinzudenken. Es referieren Fachleute vom Bundesarchiv [21], von der WASt [22], auch ein Fotohistoriker ist manchmal dabei. Kontakt über den Archivar Ulrich Tempel, tempel@topographie.de [15], Telefon: 030-25450927. Hier [23] exemplarisch das Programm einer solchen Veranstaltung.
Fundgrube: Entnazifizierungsakten
Über Mitgliedschaften oder Funktionen innerhalb des NS-Systems erfährt man oft etwas in den Entnazifierungsakten ("Spruchkammerakten") – sofern solch eine Akte zu der Person angelegt worden ist.
Die alliierten Siegermächte hatten nach Kriegsende etwa 182.000 Deutsche inhaftiert, um ihre Schuld an den Verbrechen des NS-Staates zu klären. Man teilte die Leute dann ein in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete.
Spruchkammerakten sind mit Vorsicht zu lesen! Denn die Entnazifizierungsbescheide sind oft eher aus Gefälligkeit erstellte Persilscheine als tatsächlich recherchierte Bescheide. Man bezeichnete die Spruchkammern deshalb sogar als "Mitläuferfabriken" - weil sie aus Tätern einfache Mitläufer machten. Hintergrund: Die Spruchkammerverfahren sahen eine Umkehr der Beweislast vor, d.h. die Beklagten mussten selbst Beweise herbeischaffen dafür, dass sie trotz allerlei Zugehörigkeiten oder Ämter etc. den NS-Staat nur unwesentlich unterstützt oder sogar Widerstand geleistet hatten. Dafür bat man Freunde und Bekannte, die Unbescholtenheit zu bezeugen oder Begebenheiten zu schildern, aus denen auf eine gewisse Regimeferne geschlossen werden konnte.
Die Einstufung als bloßer "Mitläufer" sollte man also nicht einfach so übernehmen. Sonst läuft man Gefahr, aus den Akten genau das beschönigende Bild herauszulesen, das über Jahrzehnte in der Familie tradiert wurde.
Wertvoll sind die Spruchkammerakten für Recherchierende dennoch, da in den Meldebögen die Mitgliedschaften in der NSDAP oder anderen parteinahen Organisationen aufgelistet sind, die allermeist innerhalb der Verwandtschaft überhaupt nicht bekannt sind.
Die meisten Akten der Spruchkammerverfahren je nach Besatzungszone (erster Überblick [24] über die Lage der Besatzungszonen) befinden sich nicht im Bundesarchiv, sondern in den Landesarchiven (Ausnahme: bestimmte Akten der britischen Zone sind in Koblenz). In Baden-Württemberg zum Beispiel sind die Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg zu finden, in Bayern im Staatsarchiv München.
Hat man die richtige Behörde, das richtige Archiv gefunden, kann man seine Anfrage meist per Email stellen. Wichtig: Alle bekannten Daten erwähnen, also alle Vornamen, Geburtsdatum, wo gelebt, welcher Landkreis...
Deutsche Dienststelle (WASt)
Die WASt [25] informiert nicht nur über Gefallene, sondern über alle Kriegsteilnehmer – sofern es dazu Unterlagen gibt. 18 Millionen Karteikarten von Teilnehmern des II. Weltkrieges (Wehrmachtsoldaten und Angehörige anderer militärischer bzw. militärähnlicher Verbände). Achtung, die WASt ist kein Archiv, sondern eine Behörde, man bekommt keine Unterlagen in Kopie, sondern nur Bescheide. Der Tonfall auf der Homepage ist etwas abschreckend. Ein paar Hinweise [26], was sich bei der WASt findet, hat René Radtke zusammengestellt.
Ist die Schutzfrist abgelaufen?
Die Schutzfristen für personenbezogene Daten sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich lang. In Baden-Württemberg und Thüringen zum Beispiel endet der Schutz 90 Jahre nach Geburt oder 10 Jahre nach Tod, in Hessen 100 Jahre nach Geburt. Ist die Schutzfrist abgelaufen, hat jeder ein Einsichtsrecht.
Das Bundesarchiv gibt erst 30 Jahre nach dem Tode der Betroffenen Informationen an Dritte heraus. Ist das Todesjahr nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand festzustellen, endet die Schutzfrist 110 Jahre nach der Geburt des Betroffenen. Aber: Bei besonderem Interesse (etwa familiäres Interesse oder auch Forschung) kann die Schutzfrist auf Antrag verkürzt werden.
Mammutarchiv: das Bundesarchiv
Das Bundesarchiv ist das zentrale Archiv der Unterlagen des Bundes und seiner Vorgängerinstitutionen. Das Bundesarchiv teilt sich in verschiedene Dienststellen (Koblenz, Freiburg, Ludwigsburg, Berlin, Bayreuth) mit verschiedenen Beständen auf.
Achtung: Das Bundesarchiv recherchiert bei Anfragen nicht selbst in seinen Beständen, sondern schickt eine Kurzbeschreibung, welche Bestände bzw. Aktensignaturen für die Recherche interessant sein könnten. Fragen kann man aber zum Beispiel, ob der Verwandte Mitglied der NSDAP oder anderer NS-Organisationen war. Das Bundesarchiv bewahrt diese Mitgliederkarteien fast vollständig auf.
- Welche Bestände zum Dritten Reich in welchen Teilarchiven liegen, siehe hier [27].
- Selber schon mal rumsurfen? Dann hier [28].
- Liste von Recherchediensten [13].
Militärarchiv (Teil des Bundesarchivs)
Hilfreich ist es, wenn man einen Wehrpass gefunden hat. Darin ist auch notiert, wann jemand in welcher Einheit wo im Einsatz war. Damit kann man besser weitersuchen.
Das Militärarchiv [29] in Freiburg (eine Abteilung des Bundesarchivs) bewahrt an personenbezogenen Daten auf:
- Die Personalunterlagen der Offiziere der Wehrmacht (Heer, Luftwaffe, Marine, nicht Waffen-SS) auf.
- Wehrmachtsgerichtliche Unterlagen aller Dienstgrade (z.B. bei Fahnenflucht etc.)
- Verleihungslisten (z. B. Eisernes Kreuz etc.) von Wehrmachtsangehörigen aller Dienstgrade
- Vereinzelte Erwähnungen vor allem von Offizieren in den Kriegstagebüchern der Einheiten der Wehrmacht und Waffen-SS
Archivfachlicher Dienst: Telefon 0761-47817864
Die helfen weiter: RecherchehelferInnen für Militärisches findet man in der Untergruppe "Recherchedienste Freiburg" [30].
Wehrmacht
Die private Initiative "Lexikon der Wehrmacht" [31] hat viele Infos zu Einheiten auf der Seite, wann, wo, unter welcher Leitung. Auch ein Forum für Fragen. Sehr umfassend.
Uniformen
Vielleicht hat man ein Foto gefunden des Angehörigen in Uniform und will nun wissen, was das für eine Uniform ist. Uniformen von Wehrmacht und SS werden zum Beispiel hier [32] und hier [33] erklärt, oder Dienstgradabezeichen hier [34].
Oft ergiebig: Stadt- und Landesarchive
Die Bundesländer haben eigene Archive, oft Staatsarchiv genannt. Sie bewahren die schriftliche Überlieferung der Landesbehörden und Landeseinrichtungen auf, oft auch der Kommunalbehörden (auch Gerichtsakten, historische Einwohnermeldekarteien, Personalbüro-Unterlagen, Dokumente der Entnazifizierungsstellen)
Einzelne Staatsarchive bieten auch Vorträge oder Seminare an zur Erforschung der Familiengeschichte in der NS-Zeit. Besonders aktiv sind da Archive in Nordrhein-Westfalen (Landesarchiv NRW) sowie in Baden-Württemberg.
Quellen für allgemeine Familienforschung
Im "Genealogienetz" [35], einem Internetportal, das von einem gemeinnützigen Verein betrieben wird, findet man hilfreiche Hinweise zu Genealogieforschung allgemein. Praktisch sind zum Beispiel Vorlagen für Briefe an Behörden oder Kirchen. Unter dem Menüpunkt "Vereine" findet man regionale Familienforschungsvereine [36]. Praktische Tipps auch hier [37]. Ebenfalls nützlich für Ahnenforschung diese Seite [38].
Wie andere Kinder und Enkelkinder recherchiert haben (kleine Auswahl an Filmen und Büchern):
- "Meine Familie, die Nazis und ich": eine sehr persönliche und bewegende Dokumentation (2012) von Regisseur Chanoch Ze'evi über die Kinder und EnkelInnen einiger der bekanntesten NS-Täter. Die interviewten Nachfahren von zum Beispiel Himmler, Göth, Hess, Göring haben sich diesem "Familienerbe" gestellt und dabei sehr unterschiedliche Weisen des Umgangs gefunden. Sehr zu empfehlen! U.a. hier ist der Film online [39] anzusehen.
- Claudia Brunner, Uwe von Seltmann: "Schweigen die Täter, reden die Enkel" [40] (2006). Die dritte Generation recherchiert. Furchtlos, aber nicht unbeeindruckt. Uwe von Seltmann, Jahrgang 1964, muss erkennen, dass sein Großvater nicht nur der vergleichsweise harmlose Schreibtischtäter bei der Volksdeutschen Mittelstelle in Krakau war, für den er ihn bislang gehalten hat, sondern aktiv an der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstandes 1943 teilnahm. Claudia Brunner, Jahrgang 1972, die Großnichte von Alois Brunner, der rechten Hand Eichmanns, stellt sich den grausamen Fakten, die über ihren Großonkel zutage gefördert werden. Man erfährt einiges darüber, was solche Recherchen mit einem machen. Und beide machen die Erfahrung, dass, wenn sie zu reden beginnen, andere plötzlich auch zu sprechen anfangen bzw. wissen wollen, was ihre Großmütter und Großväter getan haben. Spannend.
- Moritz Pfeiffer: "Mein Großvater im Krieg 1939 – 1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich" [41](2012). Der junge Historiker Moritz Peiffer, Jahrgang 1982, konnte seinen Großvater noch befragen. Der gab ihm bereitwillig Auskunft. Das Erinnerte vergleicht Pfeiffer mit der tatsächlichen Geschichte und der wissenschaftlichen Forschung. Pfeiffer stellt fest: Die Großeltern haben sich dem NS-Regime weit mehr verschrieben, als sie es heute sagen. Und: Sie haben sehr viel mehr gewusst, als sie heute behaupten. Pfeiffer referiert auch die aktuelle Forschung dazu, was die Deutschen tatsächlich gewusst haben, z.B. über die Judenvernichtung. Sehr interessant.
- Wibke Bruhns: "Meines Vaters Land" (2004), mittlerweile als Taschenbuch erhältlich. Die Journalistin Wibke Bruhns, Jahrgang 1938, schreibt über ihren Vater, der offensichtlich überzeugter Nazi und zugleich Widerstandskämpfer war.
- Uwe Timm: "Am Beispiel meines Bruders" [42] (2003). Der Autor, Jahrgang 1940, über seinen älteren Bruder, der als Mitglied der Waffen-SS am Zweiten Weltkrieg teilnahm und dort verbotenerweise Tagebuch über seine Erlebnisse führte.
- Niklas Frank: "Meine deutsche Mutter" [43] (2006). Sowie: "Der Vater. Eine Abrechnung" (1993). Der Autor, Jahrgang 1939, rechnet voller Emotionen mit seiner Mutter und seinem Vater ab, dem einstigen Generalgouverneurs von Polen und Hitlers Gefolgstreuem. Mit dem Buch unterm Arm reist Niklas Frank seit Jahren kreuz und quer durch Deutschland und liest daraus in Schulen vor. Trotzdem ist er kein verbitterter Typ, wie man 2012 erschienenen Film "Meine Familie, die Nazis und ich" entnehmen kann: Da tollt er mit seinen Enkeln herum und nimmt gerührt das "Danke" seiner Tochter entgegen - sie bedankt sich bei ihm, dass er durch seine hartnäckige Aufarbeitung zwischen ihr und der NS-Zeit sozusagen einen Schutzwall aufgebaut hat.
- Ute Scheub: "Das falsche Leben: eine Vatersuche" [44] (2006). Die Autorin, Jahrgang 1955, recherchiert den Weg ihres Vaters, eines SS-Manns, Jahrzehnte nach dessen Suzid, anhand von Manuskripten und Feldpostbriefen. Porträt auch einer ganzen Männergeneration, die nicht über ihre Kriegserlebnisse geredet hat.
- Alexandra Senfft [45]: "Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte" (2008). Die Autorin (Jahrgang 1961) ist die Enkelin von Hanns Ludin. Der war SA-Mann und Hitlers "Gesandter" in der Slowakei und in dieser Funktion verantwortlich für die Judendeportationen. 1947 wurde er als Kriegsverbrecher hingerichtet. Zu Unrecht, heißt es über Jahrzehnte in der Familie, Hanns Ludin habe ja nicht gewusst, dass die Juden direkt zur Ermordung deportiert wurden. Das älteste von sechs Kindern, Tochter Erika, die Mutter der Autorin, war 14, als der Vater starb. Sie wurde zur Vertrauten von Ludins Witwe. Später schlingerte sie durchs Leben, überaus charmant und zugleich haltlos. Ein Buch darüber, wie Schweigen und Verleugnen die nachfolgende Generation fürs Leben geprägt hat.
- Der jüngste Sohn von Hanns Ludin, nämlich Malte Ludin, hat ein paar Jahre vor diesem Buch, 2004, die Dokumentation "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß [46]" gedreht. Darin interviewt er vor allem die Schwestern und seine alte Mutter und zeigt, wie sie an der Legende des guten Vaters festhalten. Die Aufarbeitung der Schuld des Auswärtigen Amtes während der NS-Zeit begann damals erst. Der Film ist als DVD erhältlich.
Spannende Fachbücher
- Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi." [47] Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (2002). Das AutorInnenteam führt Interviews mit verschiedenen Generationen mehrerer Familien und stellt dabei fest: Die Erinnerung an den Holocaust hat im deutschen Familiengedächtnis keinen Platz. Historisches Wissen aus Schule und Zeitung wird nicht in Verbindung gebracht mit der eigenen Familie. Getrennte Welten. Die meisten nehmen einfach mal so an, dass ihre Vorfahren gegen die Nazis waren.
- Jan Philipp Reemtsma: "’Wie hätte ich mich verhalten?’ Und andere nicht nur deutsche Fragen" [48] (2001) (Der Link führt zu Auszügen aus Rezensionen). Überaus kluger Aufsatz (der erste im Sammelband) über die Frage, ob man nur urteilen darf, wenn man dabei gewesen ist. Und ob das Misstrauen gegen sich selbst (Wäre ich stark genug gewesen?) zu einer Entschuldigung der Vorfahren führen muss.
- Christian Hartmann: "Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941 – 1945" [49] (2001). Der Autor, Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München/Berlin, gibt im Taschenbuchformat einen Überblick über den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Über Motive, Verläufe, Diskussionen, Verbrechen. Sehr nützlich zur Orientierung. Es gibt auch eine Langfassung dieser Arbeit.
- Harald Welzer: "TÄTER. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden." [50] (2005) Über den Holocaust ist viel geschrieben worden, aber die wichtigste Frage, ist bis heute nicht beantwortet: Wie waren all die "ganz normalen Männer", die gutmütigen Familienväter und harmlosen Durchschnittsmenschen imstande, massenhaft Menschen zu töten? Der Sozialforscher Welzer untersucht Taten aus dem Holocaust und anderen Genoziden und zeigt, wie das Töten innerhalb weniger Wochen zu einer Arbeit werden kann, die erledigt wird wie jede andere auch. Und dass man sich dafür entscheidet. Ein intellektuell und emotional aufregendes Buch.
- Peter Longerich: "'Davon haben wir nichts gewusst!' Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945." [51] (2006) Was genau haben die BürgerInnen im "Dritten Reich" gewusst? Wie diskutierten sie darüber? Die Ausgrenzung und später Ermordung der Juden vollzog sich nicht fern der Öffentlichkeit. Aber nach anfänglichen Diskussionen machte sich Desinteresse an ihrem Schicksal breit.
- Christopher Browning: "Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen." [52] (1998) Opa war Polizist. So viel weiß man in den meisten Familien. Und denkt dann gern: Er hat den Verkehr geregelt und Diebstähle aufgeklärt. Was normale Berufstätige halt so tun. Christopher Browning hat sich ein Polizeibataillon mal genauer angeschaut. Sein Buch schlug ziemlich Wellen. Denn diese ganz normalen Polizisten waren an Massenmorden beteiligt (Erschießungen von Juden in Polen). Und sie konnten sich entscheiden, ob sie da mitmachen wollen. Man bot ihnen an, sonst einen anderen Job zu übernehmen. Nur 12 von etwa 500 sagten dann: Hier, ich, ich will was anderes machen.
- Daniel Jonah Goldhagen: "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust." [53] (1996) Eines der ersten Bücher, die den Scheinwerfer auf die "kleinen" Täter richteten. Eine Fallstudie darüber, wie es möglich war, dass sich so viele ganz normale Deutsche am Holocaust beteiligt haben. Das Buch wurde heftig diskutiert. Manche warfen Goldhagen eine gewisse Einseitigkeit vor sowie den staatsanwaltschaftlichen Ton.