Menschengruppe auf der Flucht
Menschengruppe auf der Flucht
jhc
Zwischen den Bäumen lauert die Not
Das evangelische Tagungshaus "Wildbad Rothenburg" an der Tauber bietet erstaunlichste Kunsterlebnisse. Eines wirkte auf mich besonderes verstörend und wird mir lange in Erinnerung bleiben.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
19.05.2023

Wer beim Wort „evangelische Unterbringungseinrichtung“ an schalen Hagebuttentee und welke Graubrotscheiben denkt, war noch nicht im Wildbad Rothenburg ob der Tauber.

Unterhalb der wirklich sehr schönen Stadt – man muss keineswegs aus Japan stammen, um sie zu besuchen – liegt ein ehemaliges Kurhotel, das Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut und über viele Umwege in den Besitz der evangelischen Kirche gekommen ist. Wer es besucht, fühlt sich wie in einen Wes Anderson-Film versetzt: ein nostalgischer Charme, eine lässige Melancholie, eine verspielte Großzügigkeit umfangen einen – alles wie aus der Zeit gefallen. Man kann hier gut sein, aber nicht nur tagen, arbeiten oder sich einfach so entspannen. Es gibt im Park, der das riesige Haus umgibt, auch bemerkenswerte Kunst zu sehen. Mir ist besonders ein Werk in Erinnerung geblieben, weil es so irritierend und im Kontrast zur grandiosen Unterkunft so verstörend und beängstigend wirkt.

Am Hang zwischen den Bäumen treten einem plötzlich acht Gestalten entgegen. Abgerissen sind sie, das Wetter hat ihnen zugesetzt, einen langen Weg werden sie hinter sich haben, ihr Ziel ist ungewiss, sie wirken erschöpft. Gepäck liegt vor ihnen, zerschlissen und verdreckt. Ihre Gesichter starren einen an. Oder gehen sie nicht eher ins Leere? Tritt man näher heran, erkennt man, dass ihre T-Shirts und Sweatshirts Botschaften enthalten. „Promised Land“ oder „Dreamland“, „Sometimes The Hardest Way Is The Right Way“, „I Love Tofu“ oder „Just Try To Be Happy“.

„Rest On The Escape…“ heißt diese Skulpturengruppe. Man denkt an das klassische christliche Bildmotiv der Ruhe von Maria, Joseph und dem Jesuskind auf der Flucht vor Herodes nach Ägypten. Allerdings geht hier der Titel noch weiter: „… From The Confrontation With The Fucked-Up-Ness Of The Status Quo“. Geschaffen hat es das Berliner Kunst-Duo Böhler & Orendt 2017.

Die Rotzigkeit des Titels, die Lächerlichkeit der Kleidungsaufschriften, die Trübsinnigkeit der Figuren gehen mir nach – vor allem aber auch eine seltsame Unbestimmtheit. Worum geht es hier eigentlich? Um wen handelt es sich hier? Beim ersten Blick denkt man an Menschen auf der Flucht. Beim zweiten Blick gewinnt man aber den Eindruck: Das könnten auch Touristen sein wie du und ich.

P.S.: Über sein Leben für die Poesie spreche ich mit dem Autor und Verleger Anton G. Leitner in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“. Seine wunderbare Zeitschrift „Das Gedicht“ feiert deshalb gerade groß ihren 30. Geburtstag. Einen besonderen Sinn hat Leitner für religiöse Spuren in der zeitgenössischen Lyrik.

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