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Von Peru in die West-Bank
Über Konversionen und die Rolle von Konvertiten wird in Deutschlands jüdischen Gemeinden gerade intensiv diskutiert. Wie erstaunlich, abenteuerlich, befremdlich und anrührend dieses Thema sein kann – davon erzählt diese unerhörte Geschichte aus Peru.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
31.03.2023

Die argentinische Journalistin Graciela Mochofsky hat diese Geschichte über Jahre recherchiert und nun in ihrem Buch „The Prophet of the Andes. An Unlikely Journey to the Promised Land“ der Öffentlichkeit vorgestellt. In meiner Lieblingszeitschrift „The New York Review of Books“ hat Rachel Nolan, Professorin für lateinamerikanische Geschichte in Boston, das Buch ausführlich gewürdigt. Für die eilige deutsche Leserschaft erzähle ich die Geschichte „in der Nuss“. Wahrscheinlich hat noch niemand hierzulande von Segundo EloyVillanueva, dem späteren Zerubabbel Tzidkiya, gehört. Dabei lohnt es sich.

Die Geschichte beginnt 1944 mit einem Mord im peruanischen Hochland. Segundo Eloy Villanueva ist ein armer, stotternder Bauern-Teenager. Da wird sein Vater von einem Nachbarn erschossen. Dieser wird verhaftet, doch zu einer Verurteilung kommt es nicht, er kann sich in die Freiheit zurückkaufen. Villanueva sinnt auf Rache. Da findet er in den Hinterlassenschaften seines Vaters eine spanischsprachige Bibel. Das war ein ungewöhnliches Besitzstück. Im damals noch ganz katholischen Peru war es zwar nicht verboten, wenn einfache Christen eine Bibel besaßen und selbst darin lasen, aber es wurde überhaupt nicht gern gesehen, stellte es doch das Deutungsmonopol der Priester in Frage.

Aufgewühlt und voller Hass begann Villanueva in der väterlichen Bibel zu lesen. Von vorn bis hinten und wieder zurück, mit vielen Fragen und neuen Einsichten. Danach stand für ihn fest: Nur das Alte Testament enthält das Wort Gottes. Er riss die Seiten des Neuen Testaments heraus und begrub sie in der Erde. Zugleich begrub er in seinem Herzen alle Rachewünsche: Denn die Rache ist allein Sache des HERRN. Dafür stellte sich ihm eine neue Frage: Wie konnte er Jude und Teil des Volkes Israel werden – mitten in Peru?

Aber Villanueva, nun in Tzidkiya umbenannt, war hartnäckig. Er sammelte eine kleine Gemeinde um sich und zog mit ihr ins peruanische Amazonasgebiet. Dort bauten sie sich ein neues Leben auf: bitterarm, dafür streng an der Thora orientiert. In der Waldeinsamkeit mussten sie keine Verfolgung befürchten. Doch für immer wollten sie hier nicht bleiben. Ihr Ziel war das Heilige Land. Allerdings mussten sie zunächst Juden werden. Das war nicht leicht. Denn der Rabbiner von Lima half ihnen zwar beim Hebräisch-Lernen, wollte sie aber nicht in seine Gemeinde aufnehmen.

Da hörten sie im Radio von einem Bibelwettbewerb in Israel. Hauptpreis: Eine Reise ins Heilige Land. Ein junger Mann aus der Gemeinde, der Klügste und Bibelkundigste, nahm teil und gewann. 1981 wurde er in Jerusalem von Menachim Begin empfangen. In der Klagemauer ließ er einen Gebetszettel zurück mit dem Wunsch, zusammen mit der ganzen Gemeinde wiederzukommen. Dabei half ihm eine neue Bewegung messianischer Zionisten, die es sich zum Ziel gemacht hatte, „die verlorenen Stämme Israels“ zu sammeln und in die Heimat zu führen. Obwohl Tzidkiyas Gemeinde, die „Kinder Moses“, ausschließlich durch ihren Glauben und ihre fromme Praxis mit dem Judentum verbunden waren, wurden sie schließlich doch akzeptiert und konnten 1990 endlich nach Israel einreisen.

So einzigartig diese Geschichte klingt, die „Kinder Moses“ waren nicht allein. Mochkofsky hat etwa siebzig ähnliche Gruppierungen aus fast allen Teilen Lateinamerikas ausfindig gemacht, die auf ähnliche Weise zum Judentum kamen – viele davon mit Verbindung zu evangelikalen Bewegungen. Doch die allermeisten blieben in ihrer Heimat.

Nachdem die „Peruanim“ in Tel Aviv angekommen waren, wurden sie in Bussen in die West-Bank gefahren. Dort sollte sie mitten zwischen arabischen Dörfern eine eigene – völkerrechtlich illegale – Siedlung aufbauen. Da brach die erste Intifada los. Zwei Peruanim wurden auf ihrem Arbeitsweg von Palästinensern getötet. Damit schloss sich auf tragische Weise ein Bogen zum Anfang der Erzählung.

Und was ist die Moral davon? Mochkofsky schreibt: „Dies ist eine Geschichte, bei der ich oft gedacht habe, ich würde sie verstehen, und dann einsehen musste, dass ich nichts verstanden hatte.“

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