Familienangehörige trauern um Opfer des Anschlags in der Synagoge in Beit Shemesh
epa10437049 Israeli family members and relatives mourn Eli Mizrahi, 48, and his wife Natali Mizrahi, 45, who died in shooting attack at a Jerusalem synagogue in Neve Yaakov, during their funeral in Beit Shemesh, Israel, 29 January 2023. Eli and Natali were two of seven people killed in the shooting attack at the synagogue. Photo: picture alliance/EPA/ATEF SAFADI
Atef Safadi/dpa/picture alliance /
"Jerusalem war immer eine fanatische Stadt"
Gewalt, Armut, wenig Hoffnung: Der Historiker Tom Segev findet das Leben in Jerusalem mittlerweile unerträglich – und will doch bleiben.
Tim Wegner
03.02.2023

Lässt es sich in Jerusalem noch gut leben? Die Gewalt scheint zu eskalieren.

Jerusalem ist 3000 Jahre alt und auf Felsen gebaut, ein hartes Pflaster. Hier gibt es kaum Industrie, aber viel Ideologie, viel Religion und Gewalt. Es war schon immer eine fanatische Stadt. Mittlerweile ist es unerträglich geworden. Schon lange gab es nicht mehr so einen schlimmen Anschlag wie vergangenen Freitag, als ein Palästinenser in Neve Yaakov, einer israelischen Siedlung in Ostjerusalem, sieben Menschen erschoss, die aus einer Synagoge kamen. Es gibt auch sehr viele Konflikte zwischen ultraorthodoxen Juden und der Polizei. Es ist ein Mosaik von Gewalttätigkeit. Die meisten meiner Freunde sind längst nach Tel Aviv gezogen.

Jonas Opperskalski/laif

Tom Segev

Tom Segev, 1945 in Jerusalem geboren, ist ein israelischer Historiker und Journalist. Er arbeitete für die israelische Tageszeitung "Ma'ariv", unter anderem als Deutschlandkorrespondent, und ist heute Kolumnist für Ha'Aretz, eine der bedeutenden israelischen Zeitungen. Zu seinen international bekanntesten Büchern gehört "Die siebte Million" (1995), in dem er sich mit den Juden in Palästina zur Zeit des Zweiten Weltkrieges befasst. Im Oktober 2022 veröffentlichte er seine Familiengeschichte "Jerusalem Ecke Berlin" (Siedler-Verlag).
Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Sie bleiben?

Ich bin hier geboren und aufgewachsen und bleibe hier. Aber mein Sohn und seine Familie leben nicht mehr hier. Ich fahre zweimal die Woche zu ihnen. Früher gab es auch in Jerusalem eine liberale, säkulare Gesellschaft. Aber die ist ziemlich schwach geworden. In den 1970er Jahren habe ich eine Weile für den Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek gearbeitet. Da habe ich viel gelernt, auch über die Grenzen des Liberalismus. Man kann kein liberaler Bürgermeister von Jerusalem sein.

"Jerusalem ist die zweitärmste Stadt in Israel"

Warum?

Weil die gemäßigten Leute auf jüdischer und palästinensischer Seite immer noch so weit voneinander entfernt sind, dass sie nicht wirklich miteinander in ein Gespräch kommen können. Im Konflikt mit den Palästinensern geht es nicht um Religion, Geld, Wasser, Sicherheit. Eigentlich ist es ein Konflikt um Identitäten, nationale Identitäten. Jede Seite definiert ihre Identität durch das Land und zwar durch das ganze Land. Jeder Kompromiss würde bedeuten, dass man auf einen Teil der Identität verzichtet. Deshalb geht es immer um das Ganze. Mittlerweile denke ich, man kann diese Konflikte nicht lösen, man kann sie nur managen.

Welche Rolle spielt Armut?

Jerusalem ist die zweitärmste Stadt in Israel, weil hier so viele orthodoxe Juden leben, die nicht arbeiten oder nur sehr wenig verdienen. Auch unter den Arabern ist die Armut groß. Und auch von den Juden, deren Eltern oder Großeltern in den 1950er Jahren aus arabischen Ländern gekommen sind, haben es nur wenige zu etwas gebracht.

Armut und Gewalt können einander verstärken.

Die arabische Bevölkerung in Jerusalem lebt besser als die meisten Palästinenser in den besetzten Gebieten, vor allem weil sie israelische Personalausweise haben, die es ihnen ermöglichen, sich freier zu bewegen und soziale Unterstützung zu bekommen. Aber viele gehen in palästinensische Schulen, wo sie viel antiisraelische Propaganda in sich aufnehmen. Es war ein 13-jähriger Junge, der am Samstag in der Nähe der Altstadt um sich geschossen hat! Und schauen Sie nach Gaza: Dort hat ein Kind überhaupt keine Zukunft zu erwarten, auch nicht, wenn es ein technisches Genie wäre. Es ist völlig hoffnungslos. Diese Menschen haben nichts zu verlieren. Das ist furchtbar.

Dieses Jahr fallen das jüdische Pessach, der muslimische Ramadan und das christliche Ostern zeitlich zusammen. Eine besonders explosive Mischung?

Es passiert alle paar Jahre, dass diese Feste in derselben Woche gefeiert werden. Das führte auch schon in der Vergangenheit oft zu Auseinandersetzungen in Jerusalem. Aber jetzt ist die Polizei auch noch dem rechtsradikalen Polizeiminister Itamar Ben-Gvir unterstellt, der jeden Tag mit einer anderen schreckliche Idee Schlagzeilen macht und wegen seiner rassistischen Hetze vorbestraft ist. Und die sogenannte Grenzpolizei, die in den palästinensischen Gebieten und in Ostjerusalem wie ein Polizeikommando agiert, untersteht einem anderen rassistischen Minister, Bezalel Smotrich. Es kann nur schlimm werden. Ben-Gvir ist auch nur sehr schwer zurückzuhalten mit allem, was den Tempelberg betrifft. Der Tempelberg ist wirklich ein sehr empfindlicher Ort. Jeder halbwegs vernünftige Mensch versteht, dass man sich da zurückhalten muss – einschließlich Benjamin Netanjahu.

Ein Mitglied einer ultra-orthodoxen Gemeinde protestiert gegen die Einberufung zum Wehrdienst

"Druck aus dem Ausland hilft"

Bezalel Smotrich ist orthodoxer Jude und hat sieben Kinder. Viele Orthodoxe und Ultraorthodoxe bekommen sehr viele Kinder, anders als säkulare Juden.

Auch die arabischen Familien bekommen im Schnitt sehr viele Kinder. In 20, 30 Jahren wird die Mehrheit der Israelis orthodox oder arabisch sein. Unter den Arabern, die israelische Staatsbürger sind, gibt es auch eine breite Mittelklasse und auch viele Akademiker, denen es nicht viel anders geht als jüdischen Israelis.

Die neue Regierung plant eine Justizreform: Das Oberste Gericht soll entmachtet werden. Hunderttausende Israelis demonstrieren dagegen. Was bewirkt der Protest?

Er bewirkt sicher mehr, wenn zusätzlich Druck aus dem Ausland kommt. Die Netanjahu-Regierung ist noch sehr jung und empfindlich. Deshalb war es sehr wichtig, dass der amerikanische Außenminister bei seinem Besuch diese Woche in einer Pressekonferenz gesagt hat, wie wichtig es ist, die Demokratie zu bewahren. Wenn die Regierung diese Justizreform umsetzt, hätte das Oberste Gericht nicht mehr die Möglichkeit, die Regierung zu kontrollieren. Das wäre eine fundamentale Änderung des demokratischen Systems.

Außenminister Blinken hat sich eineinhalb Stunden mit Vertretern von NGOs getroffen. Wie interpretieren Sie das?

Das wäre früher unmöglich gewesen, ein Affront, weil wir doch gemeinsame Werte haben. Für mich ist es ein Zeichen, dass Menschen in den USA und in anderen Ländern sehr genau verfolgen, was hier passiert und besorgt sind. Allerdings ist die liberale Demokratie weltweit in Gefahr. In den USA hatten sie Trump, in der Türkei haben sie Erdogan, in Ungarn Orban, jetzt in Italien Meloni.

Könnte der Rechtsruck wirtschaftliche Folgen haben?

Man versucht, Netanjahu mit dem Argument zu überzeugen, dass eine Schwächung der Demokratie dazu führen könnte, dass ausländische Unternehmen nicht mehr so viel investieren in Israel. Daran glaube ich nicht wirklich. Die großen Firmen, die mit Indien und China Geschäfte machen, afrikanische Diktatoren bestechen und Fünfjährige in ihren Produktionshallen arbeiten lassen, fragen sich wohl kaum, was das Oberste Gericht in Israel macht. Aber unsere Hightechindustrie ist definitiv vom Ausland abhängig. Und die israelische Regierung auch. Das war schon immer so. Wir beschimpfen unsere Kritiker zwar, aber Druck von außen hat doch Erfolg.

Tom Segev hat kürzlich seine Familiengeschichte veröffentlicht: "Jerusalem Ecke Berlin", Siedler-Verlag, 416 Seiten, 32 Euro.

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