Entscheidung - Friedrich Wilhelm Raiffeisen
Entscheidung - Friedrich Wilhelm Raiffeisen
Marco Wagner
Hilfe zur Selbsthilfe
Der junge Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen formulierte die Grundidee der Genossenschaft: Einer für alle, alle für einen.
Lena Uphoff
28.05.2018

Friedrich Wilhelm Raiff­eisen konnte nicht mit ansehen, wie im Hunger­winter 1846/47 mehrere Dutzend Familien in Weyerbusch Not litten, weil sie sich kein Brot mehr leisten konnten. Der 26-jährige Bürger­meister des Dorfes im Westerwald traf eine folgenreiche Entscheidung: Er gründete mit wohlhabenden Leuten den "Weyerbuscher Brodverein".

Der Verein kaufte große Mengen Korn und handelte dafür einen sehr günstigen Preis aus. Der Bürger­meister ließ ein Backhaus bauen, ­stellte einen Bäckergehilfen ein. Ergebnis: Die gemeindeeigene Bäckerei konnte ihr Brot zur Hälfte des üblichen Preises verkaufen. Verschenkt wurde nichts. Wer nicht bezahlen konnte, unterschrieb einen Schuldschein, mit dem er sich verpflichtete, den Brotkredit bei Gelegenheit auszugleichen. Geldgeschenke, da war sich Raiff­eisen sicher, verderben den Charakter.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Gründer des Genossenschaftswesens

Als siebtes von neun Kindern ­hatte Friedrich Wilhelm selbst Armut erfahren. Sein Vater war als Bürgermeister von Hamm (Sieg) entlassen worden, weil er in die Kasse ge­griffen hatte. Somit fehlte der Familie das ­nötige Geld, um den begabten Sohn auf eine – kostenpflichtige – weiter­führende Schule zu schicken. Er­ziehung und Bildung übernahm Paten­onkel Georg Wilhelm Seippel, der evangelische Pfarrer von Hamm.

Mit 17 Jahren wurde Raiffeisen Berufs­soldat bei der Preußischen Artil­lerie in Köln. Sieben Jahre später ­gab er den Dienst auf. Grund: eine ihn bis zu seinem Tode begleitende Augenkrankheit. So schlug der junge Mann den Weg in die Gemeindeverwaltung ein. Er wollte die Not an den Wurzeln ­packen, baute eine Schule und neue Straßen. Um auf dem Land gut leben und arbeiten können, erkannte er, mussten Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen modernisiert werden. Obwohl seinem Landrat der "Brodverein" überhaupt nicht gefallen hatte, erhielt Raiffeisen 1848 eine größere Bürgermeisterstelle im benachbarten Flammersfeld. Auch dort verfügten die meis­ten Landwirte und Hand­werker nicht über das nötige Geld für ihre Betriebe. Das nutzten "Wucherer", die ihnen zu gewaltigen Zinsen Darlehen anboten. Schon eine Missernte genügte, um die Rückzahlung unmöglich zu machen. Das Eigentum fiel an die Geldgeber.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Bankier der Barm­herzigkeit

Raiffeisens Programm hieß "Hilfe zu Selbsthilfe". Arme Leute sollten nicht beschenkt werden, sondern ­ihre Ziele selbst erreichen können. In fairen Gemeinschaften. Für den überzeugten Christen Raiffeisen standen diese auf "christlich-sozialistischer" Grundlage. So gründete der Netzwerker im Dezember 1849 mit 60 Bürgern den "Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte". Stimmberechtigte Mitglieder waren Nehmende wie Gebende, die "ehrenamtlich" agierten. Ziel: gemeinsamer, preiswerter Einkauf von Tieren und Rohstoffen und ihre bezahlbare Veräußerung an Mitglieder, wenn nötig mit Darlehen.

So entstand die Grundidee des Genossenschaftswesens: "Einer für alle, alle für einen." Und die nahm Raiff­eisen auch an den nächsten Dienstort Heddesdorf mit. Er gründete 1854 den "Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein", später in "Darlehnskassen-Verein" umbenannt. 1866 veröffentlichte er das Buch "Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Ar­beiter", ein Jahr zuvor war er, fast ­völlig erblindet, in Pension gegangen. Seinem Wirken tat dies keinen Abbruch. Verlassen konnte er sich auf die Hilfe seiner Tochter Amalie, die für ihn schrieb, las und Reisen plante. Bis zu seinem Tode 1888 blieb Raiffeisen dem Projekt verpflichtet.

Mehr als eine Milliarde Menschen sind heute weltweit in Genossen­schaften organisiert. Die Grundidee, zu der auch der Preuße Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) beitrug, zählt seit 2016 zum "Immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit" der Unesco.

Infobox

Historische Raiffeisenstraße: Auf der 40 Kilomter langen Strecke zwischen Westerwald und Rhein lässt sich die Geschichte Raiffeisens und seines Genossenschaftswesens nachverfolgen.

Einen guten ­Überblick erhält man im Raiffeisenhaus Flammersfeld  raiffeisenhaus-flammersfeld.de

Lesenswert: Raiffeisens Buch: "Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Not...", überarbeitet und neu heraus­gegeben von Marvin Brendel (geno I dition)

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