Demonstranten gegen das geplante Bundesgesetz über die Teilnahme halten die Banner in Berlin, Deutschland, am 7. November 2016. Menschen mit Behinderungen befürchten schwere Kürzungen bei den Leistungsrenten.
Protesters against the planned Federal Law of Participation hold the banners in Berlin, Germany, on 7 November 2016. People with disabilities fear severe cuts in performance pensions. (Photo by Markus Heine/NurPhoto) Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
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„Behinderte Menschen sind politisch interessiert“
Am 24. September ist Bundestagswahl. Doch 84 000 Menschen mit Behinderung dürfen ihre Stimme nicht abgeben, obwohl einige Tausend von ihnen noch im Mai die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mitwählen durften.
Tim Wegner
30.08.2017

chrismon: Wer darf am 24. September nicht wählen? 

Dirk Mitzloff: Wer eine sogenannte Betreuung in ­ allen Angelegenheiten hat. Unter anderen betrifft das Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Gerichte teilen den Einwohnermeldeämtern ihre Entscheidung über eine Betreuung in allen Angelegenheiten mit. Diese Personen erhalten keine Wahlbenachrichtigung. Im Fachjargon sind das die Wahlrechtsausschlüsse. 

Warum ist das so? 

Jörg Wohlfromm

Dirk Mitzloff

Dirk Mitzloff ist Stellvertreter des Landesbeauftragten für Menschen ­mit Behinderung ­ in Schleswig-­Holstein. Er beschäftigt sich ­besonders mit ­Fragen der Diskriminierung.
 

Das haben wir uns auch gefragt. Schließlich hat in Deutschland das Betreuungsrecht längst den Vormundschaftsgedanken ersetzt. Heute zählen die Kompetenzen der Menschen. Zum Beispiel unterstützt sie ein Betreuer nur bei der Kommunikation mit Ämtern. Oder bei Geldangelegenheiten. Also immer nur bei dem, was ein Mensch nach sorgfältiger Prüfung wirklich nicht allein kann. In dieser Logik müsste der Staat nachweisen: Eine Wahlentscheidung zu treffen – ist das eine Kompetenz, die jemand nicht hat? Das hat aber nie jemand überprüft, sondern der Staat hat das Wahlrecht pauschal verweigert. Also hat der Landtag in Kiel das Landeswahlrecht in Schleswig-­Holstein geändert, zumal sogar die Vereinten Nationen die Benachteiligung von gesetzlich Betreuten wiederholt moniert haben.  

Wie waren Ihre Erfahrungen bei der Landtagswahl?

Wir schätzen, dass in Schleswig-Holstein 3800 bis 4500 Personen mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten wahlberechtigt waren. Wie viele ihr Recht genutzt haben, wissen wir leider nicht, aber für uns zählt, dass sie teilhaben durften. Zu den Erfahrungen gehört leider auch, dass es hämische Reaktionen auf die Wahlbenachrichtigung gab, die erstmals in einfacher Sprache versendet wurde. 

Beeinflussen Betreuer die Hilfsbedürftigen nicht?

Auch viele geistig behinderte Menschen interessieren sich für Politik. Die gucken „Tagesschau“ wie andere auch. Und sie wollen, dass jemand ihre Interessen vertritt. Bei diesem Wunsch müssen die Betreuer sie in Gesprächen unterstützen. Dabei sehe ich keine größere Gefahr für eine Beeinflussung als bei anderen Gruppen. Niemand weiß doch, ob ein Ehemann seiner Frau bei der Briefwahl zu Hause den Willen aufdrückt. Oder Bewohner von Altersheimen, die darauf angewiesen sind, dass jemand sie zum Wahllokal fährt. Entscheiden sie ganz sicher frei?

Was passiert bei der Bundestagswahl im September? 

Dann haben diejenigen, die hier bei uns noch im Mai wählen durften, kein Wahlrecht. Das ist eine bizarre Situation. 

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Selbstverstädnlcih hat Herr Mitzloff pauschal recht. Leider liegen die Probleme im Detail. Berücksichtig man alle Fälle einzeln, kommt es sehr schnell zur Einzelfallgesetzgebung bzw. Entscheidung, die dann auch noch, je nach Entwicklung der Beeinträchtigung, einer steten Kontrolle bedarf. Ich habe häufig genug erlebt, wie gerade bei Wahlen zur Wahlbeeinflussung die parteilich/privaten Fahrdienste gezielt eingesetzt wurden. Bei uns gaben einmal 28/36tell (1 Stimzettel mit 36 Einzelstimmen bzw. Bewerbern) den Auschlag für ein entscheidendes Mandat. Also nicht einmal ein ganzer Stimmzettel. Entscheidend ist ja wohl der Betreuungsumfang. Ist Herr Mitzloff auch bei einer psychischen Beeinträchtigung dennoch der Meinung, dass das Recht auf eine Wahlstimme erhalten bleibt, während die Person in allen anderen Fragen der absichtlichen Lebensführung einer Betreuung bedarf? Über die Notwendigkeit einer Operation, der Form der Ernährung, über das Erbrecht darf nicht selbst entschieden werden und über die Wahlstimme doch? Selbstverständlich gibt es unvermeidlich Härten, Fehler und Mißbrauch. Aber dann sollte man doch vielleicht unterscheiden zwischen persönlichen Stimmen und solchen, die die Gemeinschaft beeinflussen könnten.

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