14.09.2020

Liebe Leserinnen und Leser,

als chrismon-Autor Harald Maass seinen Interviewpartner:innen in Armenien erzählte, dass seine Reportage über Transsexualität in einem Magazin erscheint, das überwiegend von der Kirche finanziert wird, staunten sie nicht schlecht. "Gibt es in Europa eine Kirche, die uns nicht ausgrenzt?", fragten sie. Denn in Eriwan fordert der Priester die Todesstrafe für Lilit Martirosyan, die als erste Transsexuelle im Parlament  sprach. Danach wollte der Priester gleich das "besudelte" Parlamentsgebäude neu weihen.

Ja, diese Kirche gibt es. Unsere evangelische Kirche ist überzeugt, dass alle Menschen zum Bilde Gottes geschaffen sind. Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung sprach sich offen dafür aus, dass "wir aus der Kraft des Evangeliums heraus Menschen helfen, ein Leben in Würde und Freiheit zu führen." Zu diesem Thema gibt es eine eigene "Handreichung"

Aber auch wir bei chrismon im ach so fortschrittlichen Europa bekommen Ärger, wenn wir über Themen der sexuellen Identität schreiben. Neu weihen wollte unser Gebäude zwar noch keiner, aber es kommen böse Briefe. "Einseitig linksorientiert", schrieb uns gerade ein Herr, sei die letzte chrismon-Ausgabe – weil es neben Menschenrechten in Armenien auch noch um Rassismus in Deutschland ging. Ich finde, beide Themen haben mit links und rechts nichts zu tun, sondern mit Menschenwürde. Und dass wir Christ:innen nicht per se bessere Menschen sind, dass auch wir bisweilen Menschen, die "anders" sind, ausgrenzen, darüber hat meine Kollegin Claudia Keller gerade anhand einer Kölner Gemeinde geschrieben.  

Warum bringen die Themen Homosexualität und Transsexualität so viele Menschen derart auf? Warum werden deren Rechte weltweit als Angriff verstanden - mindestens auf Ehe und Familie, wenn nicht gleich aufs ganze Abendland? Ich frage mich das, seit ich vor drei Jahren auf Recherche in Kolumbien war, wo nach 52 Jahren Bürgerkrieg der Friedensvertrag genau an diesem Punkt hochumstritten war: die Rechte der Homosexuellen und Transidenten, neudeutsch LGBT*. Viele Kolumbianer:innen und vor allem viele Kirchenleute wollten den Vertrag für ein neues, friedliches Kolumbien nicht unterstützen, wenn dort gleiche Rechte für diese Bevölkerungsgruppe niedergeschrieben wären. Ich fragte mich: Wie kann man eine so wichtige Sache für Millionen Menschen scheitern lassen an einem Passus, der einer kleinen Minderheit schlicht Menschenrechte zugesteht?

Ich habe darüber mit Harald Maass gesprochen, unserem Titelautor, der sehr viel weiter als ich durch die Welt gereist ist und für eine China-Reportage gerade den Deutschen Reporterpreis bekam. Er sagt, er trifft an vielen Orten der Welt auf Menschen, die sich überrannt fühlen von zu viel Modernität. Die – gerade in Armenien, dem Kaukasus oder der Türkei – eine Abwehrhaltung gegen Europa einnehmen. Oder die, wie in China, schlicht Angst haben, keine Enkel zu bekommen. Die Gründe sind komplex, die Bilanz ist furchtbar: Fast jeden Tag wird irgendwo auf der Welt ein Mensch ermordet, weil er transident ist. Und auch in Deutschland hat eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW und der Universität Bielefeld ergeben: 40 Prozent der Transmenschen werden am Arbeitsplatz gemobbt oder belästigt. 

Was hilft? Nähe und Begegnung. Als der Pfarrer Klaus-Peter Lüdke im beschaulichen Altensteig im Schwarzwald verstand, dass seine Tochter im falschen Körper geboren ist, begegnete ihm Skepsis in der Gemeinde – und doch lieben und schätzen sie in Altensteig heute alle den Jungen James. Die Reportage meiner Kollegin Christine Holch macht mir Hoffnung, auch wenn ich weiß, dass sich viele Eltern, Kinder und Schulen schwertun mit dem Thema. Gut ist sicher, dass mittlerweile genau hingeschaut wird, damit keine Diagnose fahrlässig gestellt wird, damit kein Kind leichtfertig eine Geschlechtsumwandlung angeht. Aber genau hinschauen, in Ruhe seinen Weg gehen, kann man nur in einer Gesellschaft, die alle Menschen achtet und respektiert.

Ich wünsche Ihnen eine achtsame Woche!

Ursula Ott

chrismon-Chefredakteurin