12.11.2019

Liebe Leserin, lieber Leser,

schon mehrfach haben wir von Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirche berichtet. Etwa von einem Schulpfarrer, der eine Schülerin bei sich aufnahm. Zuhause konnte sie nicht bleiben. Der Pfarrer lebte eine Weile mit der Minderjährigen wie mit einer Geliebten. Das liegt mittlerweile Jahrzehnte zurück. Erst 2010, als andere Missbrauchsfälle publik wurden, dämmerte der ehemaligen Schülerin, dass der Pfarrer ihre Not schamlos ausgenutzt hatte. Sie schrieb ihm eine E-Mail, seine Antwort enthielt ein faktisches Geständnis seiner Tat. Sie meldete den Fall, es kam zu einer kircheninternen Untersuchung. Der Pfarrer wurde versetzt – aber er arbeitete weiter, teils auch mit Minderjährigen, bis zu seiner Pensionierung.

Noch so eine Geschichte: Ein Gemeindepfarrer aus Hof wurde gegenüber einer Konfirmandin sexuell übergriffig. Es brauchte Jahrzehnte, bis diese Frau den Mut fasste ihn anzuzeigen. Die kirchlichen Ermittler fanden schnell heraus: Auch später, als dieser Pfarrer als Oberkirchenrat im bayerischen Landeskirchenamt arbeitete, hat er Sekretärinnen sexuell belästigt. Es kam zum Verfahren, das in zweiter Instanz trotz erdrückender Beweislast mit einem Freispruch endete.

Und noch eine: Bedienstete in Kinderheimen der Evangelischen Gemeinschaft Korntal (bei Stuttgart) und Wilhelmsdorf (bei Ravensburg) quälten und misshandelten in den 50er bis 80er Jahren systematisch Heimkinder. Mehrere frühere Heimkinder nahmen sich später das Leben. Andere klagen die Gemeinschaft in Korntal an. Aber die Widerstandskräfte innerhalb der Gemeinschaft sind groß: Viele wollen das Unrecht in ihrer Mitte nicht wahrhaben.

Mindestens 770 Fälle sexualisierter Gewalt soll es von Mitarbeitenden evangelischer Institutionen gegeben haben. Ein Skandal, der die Evangelische Kirche in Deutschland bedrückt. "Eine Kirche, die sexualisierte Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr", sagte vor einem Jahr Bischöfin Kirsten Fehrs aus der Nordkirche. Damals hatte die Synode der EKD sie beauftragt, an der Spitze eines Rates die Aufklärung über solche Verbrechen an Schutzbefohlenen voranzutreiben.

Wie bringt man Licht ins Dunkel, wenn die Fälle strafrechtlich verjährt sind und Staatsanwälte nicht mehr ermitteln? Kirsten Fehrs hat vor einem Jahr einen Elfpunkteplan vorgelegt. Er sollte darlegen, wie länger zurückliegende Fälle aufgearbeitet werden können – und wie die Kirche Konsequenzen aus dem geschehenen Unrecht ziehen kann, auch für die Zukunft.

So kündigte Fehrs eine unabhängige zentrale Anlaufstelle für die ganze EKD an, wo sich Opfer sexueller Gewalt melden können, ebenso Meldestellen in den Landeskirchen. Sie versprach, neu gemeldete Fälle sexueller Gewalt schneller zu bearbeiten. Und damit es künftig gar nicht erst so weit kommt, sollte präventiv überlegt werden: Wie kann die Kirche Übergriffen ihres Personals vorbeugen, wie kann sie sie von vornherein verhindern oder zumindest erschweren? Bei alledem sollten Opfer sexualisierter Gewalt eingebunden werden.

Was ist aus dem Plan geworden? Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, Chefaufklärerin der EKD, wurde von der Synode 2019 viel gelobt. Sie hat beharrlich den Plan zur Aufarbeitung des vergangenen Unrechts und zur Prävention umgesetzt. Aber sie musste auch viel Kritik einstecken, eine undankbare Aufgabe.

Aber die Kirche ist mit ihrem Bemühen auf einem guten Weg. Es wäre wünschenswert, wenn sie den Weg aus der Krise findet, indem sie Betroffenen sexualisierter Gewalt angemessen Gehör schenkt und auch Geld zahlt zur Minderung der lebenslang anhaltenden Folgen von Gewalt. Indem sie Täter aus dem Verkehr zieht, damit die nicht noch mehr Unheil anrichten, indem sie klare und unmissverständliche Regeln etabliert, um neuen Unrecht vorzubeugen. Die Kirche darf Tätern keinen Schutzraum bieten, sie muss ein Schutzort für Opfer sein.

Eine gute Woche wünscht Ihnen

Burkhard Weitz