Zwei Drittel der Bundesbürger befürchten eine Vereinnahmung der Erinnerungskultur durch Rechtspopulisten. In der Hälfte der Familien wird aber auch nicht über die NS-Geschichte der Vorfahren gesprochen.
11.04.2019

Mehr als jeder dritte Bundesbürger (35,9 Prozent) sieht einer Studie zufolge Parallelen zwischen aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland und der NS-Zeit. Zwei Drittel (65,6 Prozent) der Befragten halten zudem die Menschen heute grundsätzlich zu ähnlichen Taten wie im Nationalsozialismus für fähig, heißt es in der am Donnerstag vorgestellten zweiten "Memo Deutschland"-Studie zur Erinnerungskultur im Auftrag der Stiftung "Erinnerung Verantwortung Zukunft" (EVZ). Befragt wurden für die Studie 1.000 Personen per Telefon. Die erste Studie wurde vor einem Jahr veröffentlicht.

Mit Blick auf die Rolle der eigenen Vorfahren in der NS-Zeit ergab die vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) erstellte Studie, dass in den in Deutschland lebenden Familien vor allem Geschichten von Opfern (35,9 Prozent) und Helfern (28,7 Prozent) weitergegeben werden. Das Wissen um Täter unter den eigenen Vorfahren ist dagegen vergleichsweise gering (19,6 Prozent).

Anzeichen einer Diskursverschiebung

Die Hälfte (50 Prozent) der Befragten zwischen 17 und 93 Jahren geht zudem davon aus, dass ihre Familienmitglieder nicht zu den "Mitläufern" des NS-Systems gehörten. Die Frage, ob die eigenen Vorfahren zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, beantwortete mehr als jeder Dritte mit "Ja" (35,9 Prozent).

Allerdings gehörten nur 8,1 Prozent der Verwandten den von den Nazis verfolgten Opfergruppen wie Juden, Sinti und Roma oder politisch Verfolgten an. Rund 35 Prozent zählen ihre Angehörigen dagegen zu den NS-Opfern, weil sie Geflüchtete und Vertriebene oder zivile Opfer des Krieges waren. Hier zeigen sich Anzeichen einer Diskursverschiebung in der Erinnerungskultur, sagte der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick als Mitautor der Studie. Zugleich befürchten aber zwei Drittel der Bundesbürger (62,7 Prozent) eine Vereinnahmung der Erinnerungskultur durch Rechtspopulisten.

NS-Vergangenheit der eigenen Familie

Zwei Drittel (65,9 Prozent) finden es sinnvoll, sich mit der NS-Vergangenheit der eigenen Familie zu befassen. Zugleich wird in der Hälfte der deutschen Familien (50,1 Prozent) nie oder nur selten darüber gesprochen. Als Hauptgründe für das Schweigen werden "kein Interesse" (17,9 Prozent) oder "Sorge um emotionale Belastung" (zwölf Prozent) angegeben.

Mehr als die Hälfte der Befragten (58 Prozent) hat sich wiederum eigeninitiativ mit der NS-Geschichte allgemein beschäftigt. Auslöser waren in der Regel entsprechende Dokumentar- oder Spielfilme oder das Internet. Bereits an vierter Stelle stehe der Besuch einer KZ-Gedenkstätte, sagte der Projektleiter der Studie, Jonas Rees. Fast jeder zweite habe eine solche Gedenkstätte bereits besucht, davon knapp die Hälfte (47,3 Prozent) mit der Schule und ein knappes Drittel (28,3 Prozent) mit der Familie.

Authentische Orte der Erinnerung

"Wir finden deutliche Diskrepanzen zwischen der Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung in der NS-Zeit und dem Wissen um die eigene Familiengeschichte", sagte Rees. Gleichzeitig sei gerade bei jüngeren Befragten eine stärkere gesellschaftskritische Perspektive auf die NS-Zeit festzustellen.

Vor dem Hintergrund der aussterbenden Zeitzeugen spielten Gedenkstätten als authentische Orte der Erinnerung eine entscheidende Rolle, sagte der Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ, Andreas Eberhardt. Zugleich seien zeitgemäße, digitale Formen der Vermittlung von großer Bedeutung.

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