"Spiegel"-Verlagsgebäude in Hamburg
epd-bild / Stephan Wallocha
Der "Spiegel" hat einen Betrugsfall im eigenen Haus offengelegt. Ein mehrfach ausgezeichneter Reporter, Claas Relotius, habe im großen Umfang eigene Geschichten manipuliert, berichtete das Nachrichtenmagazin (online) am Mittwoch.
19.12.2018

Der 33-jährige Journalist habe die Fälschungen inzwischen zugegeben und das Haus verlassen. Für seine Reportage über einen syrischen Flüchtlingsjungen hatte Relotius vor wenigen Tagen noch den Deutschen Reporterpreis 2018 erhalten. "Vieles darin ist wohl erdacht, erfunden, gelogen", heißt es jetzt auf "Spiegel Online" über den Artikel. "Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut. Fake." Journalistenverbände reagierten betroffen und teils erschüttert auf den Betrugsfall.

Aktivistin trug zur Entlarvung bei

Relotius flog den Angaben zufolge nach einem Bericht über eine amerikanische Bürgerwehr auf, die entlang der Grenze zu Mexiko Streife läuft ("Titel: "Jaegers Grenze"). Eine Aktivistin, die für diese Gruppe die Pressearbeit macht, fragte per E-Mail an, wie Relotius einen Artikel über ihre Organisation verfassen könne, ohne für ein Interview vorbeizukommen. Relotius' Kollege und Co-Autor Juan Moreno begann, "Fakten gegen die Fiktionen" sammeln und recherchierte Beweise - bis Relotius schließlich Fälschungen einräumte und am Montag kündigte.

Sichtlich bedrückt und erschüttert stellten sich Thomas Hass, Geschäftsführer des Nachrichtenmagazins, und Ullrich Fichtner, Steffen Klusmann sowie Dirk Kurbjuweit aus der Chefredaktion am Mittwoch den Fragen von Journalisten. Relotius habe "systematisch gefälscht" und das "sehr ausgebufft gemacht", sagte Fichtner. Am Donnerstag habe er zugegeben, dass er seit Jahren in seinen Texten die Fantasie spielen ließ, wenn er mit der Recherche nicht weiterkam.

Aufklärungsgremium untersucht knapp 60 Geschichten

Knapp 60 Geschichten müssten nun von einem Aufklärungsgremium untersucht werden. Auch im eigenen Haus werde man sich dem Thema stellen. "Aber es geht nicht darum, Schuldige zu suchen, die früher etwas hätten merken müssen", sagte Klusmann. Vielmehr gehe es darum, Verantwortung zu übernehmen.

Der "Spiegel" kündigte an, Arbeitsabläufe, Dokumentationspflichten und organisatorische Rahmenbedingungen im Haus zu überprüfen, um "die Verlässlichkeit von Recherche und Verifikation zu erneuern" und das Vertrauen in die Arbeit der Redaktion wiederherzustellen. Eine unabhängige Kommission aus drei erfahren internen und externen Personen solle allen Hinweisen auf Manipulation nachgehen. Sie werde Prozesse und Routinen prüfen und Vorschläge zur Verbesserung erarbeiten. Der Kommission sollen den Angaben zufolge der ehemalige Vize-Chefredakteur des "Spiegels", Clemens Hoeges, und der künftige "Spiegel"-Nachrichtenchef Stefan Weigel angehören. Mit einer dritten, externen Person sei man derzeit im Gespräch.

Der Fall habe gewiss auch eine politische Dimension, sagte Kurbjuweit. Sollte er in die aktuell geführte Debatte um Fake News aufgenommen werden, "müssen wir uns dem stellen". Groß sei der Schaden für den Journalismus und für die Glaubwürdigkeit der Reportage. Die Texte von Relotius sollen aber weiterhin auf "Spiegel Online" zu lesen sein. Sie werden laut "Spiegel" jedoch mit einem Hinweis versehen. Wer falsche Zitaten, erfundene Details oder erdachten Szene in Texten des Reporters entdecke, solle sich melden, um zur Aufklärung beizutragen.

Schaden für den Journalismus

Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, Frank Überall, erklärte in Berlin, der vermeintliche Reporter habe nicht nur dem "Spiegel" Schaden zugefügt, sondern die Glaubwürdigkeit des Journalismus' in den Dreck gezogen. Überall forderte alle Medien, für die Relotius geschrieben hat, auf, bei der Aufarbeitung des Falles zu kooperieren. Zu den Zeitungen, für die der Reporter Relotius ebenfalls geschrieben hat, gehören laut "Spiegel" die "Neue Züricher Zeitung am Sonntag", "Cicero", die "Financial Times Deutschland", "taz", "Welt", das SZ-Magazin, "Zeit online" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung".

Ariel Hauptmeister vom Journalisten-Netzwerk Reporter-Forum, das den Deutschen Reporterpreis vergibt, sagte auf epd-Anfrage, es sei davon auszugehen, dass Relotius der Preis aberkannt wird. Gemeinsam mit den Juroren solle zeitnah geprüft werden, wie verhindert werden kann, dass Entscheidungen wie diese den Preis in Verruf bringen können, sagte der Schweizer Journalist.

Der Hamburger Medienwissenschaftler Volker Lilienthal sagte dem epd, die Jurys vieler Journalistenpreise seien stark auf das Genre der Reportage fixiert. Als Juror des Otto-Brenner-Preises der IG Metall habe er selbst öfter Texte von Relotius auf dem Tisch gehabt: "Diese Tonalität der intimen Beschreibung hat oft Begeisterung ausgelöst." Den Brenner-Preis erhalten habe Relotius jedoch nie, weil den Juroren die Texte als "fast zu schön" erschienen seien.

"Zurückhaltender, angenehmer Mensch"

Der Peter Scholl-Latour Preis 2018 wurde dem "Spiegel"-Redakteur bereits aberkannt. Die Jury der Ulrich-Wickert-Stiftung hatte ihm den Preis für seine Reportage "Löwenjungen" verliehen, die zum Teil gefälscht ist. Ob Relotius auch den Katholischen Medienpreis (2017) aberkannt bekommt, ist noch offen. Die Deutsche Bischofskonferenz will nach eigenen Angaben weitere Untersuchungen des "Spiegels" abwarten.

Die "Spiegel"-Verantwortlichen bezeichneten Relotius als "zurückhaltenden, angenehmen Menschen". Der Journalist habe gesagt, er sei krank und brauche Hilfe, sagte Kurbjuweit. Er schwanke zwischen "Wut" und "Mitgefühl über den inneren Druck und Terror, dem Relotius in der letzten Zeit ausgesetzt gewesen sein muss".

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