Bushaltestelle ohne Bus: in manchen Regionen gang und gäbe.
epd-bild / Dieter Sell
Für ein Land, "in dem wir gut und gerne leben", ist Kanzlerin Merkel in den Wahlkampf gezogen. Nicht überall in Deutschland ist das der Fall, stellt Minister Seehofer fest. Am Mittwoch präsentierte er im Bundestag Ideen für mehr gleiche Chancen.
07.11.2018

Wie lebt es sich dort, wo ein Werk geschlossen wurde oder das Ende des Kohleabbaus droht, der Bus nicht mehr fährt und das nächste Krankenhaus zwei Stunden entfernt ist? Im Prinzip gar nicht mehr, stellte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Mittwoch im Bundestag fest: "Wenn aus einer Region Einrichtungen der Daseinsvorsorge verschwinden, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Menschen verschwinden." Die ungleichen Verhältnisse in deutschen Regionen sind für ihn eine der größten politischen Herausforderungen. Er will gegensteuern, will, "dass Menschen dort leben können, wo sie leben wollen", dass Arbeitsplätze wieder stärker zu den Menschen kommen als andersherum, wie er sagte.

Politische Mammutaufgabe

"Gleichwertige Lebensverhältnisse" sind das erklärte Ziel, das Seehofer mit der Erweiterung des Bundesinnenministeriums um die Bereiche "Bau" und "Heimat" verfolgt hat. Es geht um Identität, Gestaltung des Strukturwandels, Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, dass die Kluft zwischen "überhitzten Ballungsgebieten", wie Seehofer sie nennt, und abgehängten Regionen nicht weiter wächst. Es ist eine politische Mammutaufgabe, eine "Diskussion, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen wird", sagte der Innenminister im Bundestag.

Das Parlament diskutierte in einer sogenannten Orientierungsdebatte mehr als zwei Stunden über das Thema. Es gab keine konkreten Anträge, möglichst frei sollten die Abgeordneten diskutieren. Seehofers Problemanalyse wurde fraktionsübergreifend geteilt. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), die gemeinsam mit Seehofer und Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" vorsitzt, sagte, es sei höchste Zeit, darüber zu reden. Es gebe Orte in Deutschland, aus denen die Jugend abwandere und die Alten zurückblieben, der Bus nicht fahre und Internet nicht verfügbar sei.

Bildungschancen abhängig vom Wohnort?

Der FDP-Politiker Jens Brandenburg beklagte, Bildungschancen hingen in Deutschland zu sehr vom Wohnort ab. Der AfD-Abgeordnete Christian Wirth kritisierte, den Kommunen sei in den vergangenen Jahren unter anderen mit den Themen Inklusion und Integration zu viel zugemutet worden. Der Vorsitzende der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, bezeichnete die von der Koalition aufgesetzte Debatte als "Eingeständnis" der Bundesregierung, "dass es vielen Menschen in diesem Land schlecht geht". Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, sagte, es gebe bei diesem Problem "kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit". Die Disparitäten würden größer trotz guter Konjunktur, "das wissen wir alle", sagte Haßelmann.

Das konkrete Handeln blieb in der Debatte noch vage. Seehofer sprach etwa davon, Behörden oder Institute in strukturschwachen Regionen an- oder dorthin umzusiedeln, um Entwicklung zu befördern. Für das Bundeskabinett forderte er eine Verpflichtung, bei Entscheidungen Konsequenzen für ohnehin schon gebeutelte Regionen in Deutschland zu berücksichtigen, wie es jetzt etwa unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit der Fall ist. "Das sollte eigentlich zum Pflichtenheft der Politik in der Zukunft gehören", erklärte er.

Deutschlandatlas geplant

Zudem kündigte der Innenminister einen Deutschlandatlas an, der anhand von Indikatoren wie Steuerkraft, Krankenhaus- und Breitbandversorgung, Arbeitslosenquote und Bevölkerungsentwicklung aufzeigen soll, in welchen Regionen besonderer Handlungsbedarf entsteht. Er forderte auch von der Politik, von ihr verursachte Strukturveränderungen abzumildern. "Wenn man sich politisch aus guten Gründen für den Ausstieg aus der Kohle entscheidet, dann sind wir es der Bevölkerung in diesen Regionen schuldig, gleichzeitig auch eine Antwort mitzuliefern, wie wir diese strukturellen Veränderungen für die Bevölkerung wieder ausgleichen, so dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben können", sagte Seehofer.

Dafür will er mit der Wirtschaft sprechen und eine Partnerschaft mit Ländern und Kommunen schließen. Der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) nahm das Angebot mit den Worten an: "Ungleichheiten drücken sich regional aus, zu lösen sind sie nur gesamtgesellschaftlich."

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