Mitte der 60er Jahre wurde die Jubilate-Kirche mit den markanten Glockentürmen gebaut.
Mitte der 60er Jahre wurde die Jubilate-Kirche mit den markanten Glockentürmen gebaut.
Wikipedia
Aufräumen, außen wie innen
Philipp Maußhardt besucht die Kirche, in der er konfirmiert worden ist – und erkennt vieles wieder.
22.11.2022

Der Kirchgang beginnt mit einer kleinen Enttäuschung: Das Portal von "Jubilate" bleibt an diesem Sonntag geschlossen – aus Spargründen. Stattdessen findet der Gottesdienst im gegenüber liegenden Gemeindezentrum statt.

Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, 40 Jahre nach meiner Konfirmation wieder einmal in diesem Kirchenraum zu sitzen, den ich nur noch verschwommen vor mir sehe: dunkle Holzbänke in einem Halbkreis auf einen schlichten Altar ausgerichtet, farbige Kirchenfenster und vor allem viel sichtbarer Beton.

Baujahr Mitte der 60er Jahre, sehen die Glockentürme von Jubilate und seines benachbarten katholischen Pendants tatsächlich auch heute noch so aus, wie mein Vater sie immer genannt hat: "Raketenabschussrampen." Zeugen einer Fortschrittsarchitektur. Der Reutlinger Stadtteil Orschel-Hagen war aber auch ein sozialdemokratisches Experiment: Mietshäuser und Bungalows wild gemischt, Unterschicht trifft Mittelstand.

Privat

Philipp Maußhardt

Philipp Maußhardt schreibt am liebsten über Themen, die er selbst erlebt hat. Das fing schon an als Volontär beim "Schwäbischen Tagblatt" in Tübingen, wo er über die Dörfer der Umgebung zog und nach Menschelndem witterte. Später leitete er das Lokalressort beim Kölner Stadtanzeiger und wurde vom Karnevalverein der Roten Funken zwangsrekrutiert als Oberleutnant. Nach seiner Flucht aus Köln verirrte er sich über verschiedenen Stationen (ZEIT, taz, Münchner Abendzeitung) als Chefreporter zu BUNTE und beteiligte sich elf Monate an der Jagd auf Prominente. Zusammen mit Kollegen der Journalisten-Agentur "Zeitenspiegel" gründete er 2005 die "Reportageschule" in Reutlingen, die er seither leitet. Für chrismon schreibt er immer wieder "Gottesdienstkritiken", eine Rubrik, die er als Chefreporter der Abendzeitung auch in München einführte und dafür neben manchem Lob auch viel Kopfschütteln erntete. Maußhardt ist Juror für zahlreiche deutsche Journalistenpreise und wurde selbst mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Die Gemeindesaal ist erstaunlich gut besetzt: Fuffzig Leit, wie sie hier schwäbeln, alle Altersklassen vertreten. Almut, die junge Klavierspielerin, wird von Pfarrerin Silke Bartel vorgestellt und spielt noch ein bisschen Chopin. Die langen Haare ein wenig zerzaust, in Fransenjeans und rotem Kapuzenpulli. Kaum älter als ich damals.

Und genau da, wo jetzt das Klavier steht, einen Stock tiefer im Keller, da standen die Verstärker, auf denen unsere Teenie-Band laut und jede Woche probte. Meine erste Elektro-Gitarre kaufte ich mir von meinem Konfirmationsgeld.

Es ist der letzte Sonntag im November, erster Advent. Wartezeit, Ankunftszeit. An Pfarrerin Bartels Ohren baumeln zwei Ohrringe, die aussehen wie bunte Weihnachtsplätzchen. Lustig. Überhaupt scheint Bartel nicht zur Fraktion "Was-gibt’s-hier-zu-Jammern" zu gehören. Ihre Gemeinde spricht sie mit einem fröhlichen "Meine Lieben" an.

Der Innenraum der Jubilatekirche in Reutlingen

Der Brief des Johannes an die satten, selbstgefälligen Einwohner von Laodizea (Offenbarung 3, 14) ist die Grundlage ihrer Predigt. Passt bestens zur Adventszeit, findet sie, weil es darum geht, "reinen Tisch zu machen" solange noch Zeit dafür ist. Aufräumen, außen wie innen.

Nach dem Gottesdienst schließt Silke Bartel mir noch die Kirche auf. Gott sei Dank. Meine Erinnerungen muss ich nicht neu sortieren.

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