KD0B6N Neustadter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, Calenberger Vorstadt, Hanover, Lower Saxony, Germany
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Der Tenor und der Aussatz
Maren Kolf
15.10.2018

Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, Hannover, Sonntag, 17 Uhr: Es schnattert, trötet und trompetet aus der güldenen Orgel. Ein spanisches ­Ins­trument, erklärt das Gottesdienstheft, und titelt die abendliche Feier so: "Es ist nichts Gesundes an meinem ­Leibe." Ist das ein Gottesdienst für ­Patienten des nahen Diakoniekrankenhauses? Nein, es gehe um "Loben und Danken als ­Seelenkur", erklärt Pastorin Martina Trauschke zur Begrüßung.

Der große Chor im Altarraum, die Männer in Schwarz, die Frauen auber­ginefarben, macht sich gut unter den barocken Statuen und dem aqua­marinen Kreuzigungsbild an der Wand. Der Chor singt einen Psalmchoral, "Das ist mir lieb". Eine Frau liest aus dem Lukas­evangelium: Jesus heilt zehn ­Aussätzige, nur einer dankt Gott dafür. Schon zieht von hinten das Kammerorches­ter ein und platziert sich vor dem Chor – wie in einem Konzertsaal.

Eine Kantate Johann Sebastian Bachs steht auf dem Programm: "Die ganze Welt ist nur ein Hospital." Der Solotenor benennt die Gebrechen: das "Fieber böser Lust", Überheblichkeit, Geldsucht, Aussatz – "Wer ist mein Arzt, wer hilft mir wieder?" Jesus, nur er "weiß die beste Seelenkur". Erwartbar, aber mit Hingabe und an­rührend. Solisten, Chor und Orchester musizieren auf höchstem Niveau. Und dann ertönt von draußen das Tatütata eines Notarztwagens. Zufall, oder wirkte hier der Heilige Geist, um dessen Gegenwart die Gemeinde im ersten Lied gebeten hatte?

Im Spiegel Gottes ist alles zu ertragen

Der Prediger ist Theologieprofessor, Daniel Cyranka tritt im Talar ans Pult. "Ich stelle mich vonZeit zu Zeit nackt vor den Spiegel und dann weiß ich, ­woran ich bin." – Ähm. Cyranka lässt genussvoll ein paar Sekunden Stille, das Kopfkino rattert los. – Wenn wir uns im wörtlichen und übertragenen Sinn im Spiegel betrachten, fährt Cyranka fort, schonungslos nackt, alles Unausgesprochene, Verborgene und Verheim­lichte ansehen, kann das erbärmlich sein. Im Spiegel Gottes jedoch sei das alles zu ertragen. Wer sich entblöße und Jesus als Arzt anerkenne, der werde zu seinem Herzen geführt – und in der Ewigkeit im himmlischen Engels-Chor singen. Amen.

Kein pastoraler Singsang, keine frommen Floskeln. So, wie der Mann Glaube und Vernunft verschränkt, scheint er fest im Leben zu stehen. Leibniz, der neben dem Altarraum bestattet liegt, dürfte sich im Grabe freuen und mit der zum Ausgang trötenden spanischen Orgel jubilieren.

 

Kontakt

Ev.- Luth. Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis Hannover

Gemeindebüro
Rosmarinhof 3
30169 Hannover

Tel. 0511 / 171 39

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