Lena Uphoff
15.11.2010

Was man so redet, wenn man einander näher kommt in der Kaffeepause eines Kongresses. Man stellt sich vor. Man erzählt, wo man arbeitet und wohnt. Und dann fragt mein Gegenüber, ein fröhlicher Professor, im unverwechselbaren Singsang seiner kölnischen Heimat: "Sie sind aber auch nicht von hier?" Und ich erzähle, dass ich in Konstanz am Bodensee aufgewachsen bin, in Deutschlands südlichstem Zipfel. Die Augen des Rheinländers beginnen zu leuchten. "Herrliche Gegend", sprudelt es aus ihm heraus. Und dass er dort neulich erst an der Universität zu tun hatte. Und wie neidisch er auf die Kollegen sei: "Morgens ein wenig Forschung, dann aufs Segelboot, anschließend in die Weinstube. Und im Winter in einer Stunde beim Skifahren in den Schweizer Bergen." Herrliche Gegend eben.

Ich hatte mein Dasein bis dahin in der tiefen Provinz gefristet, weitab der Metropolen.

Als ich Konstanz verließ, um mich als Journalist zu verdingen, war ich heilfroh, endlich aus diesem öden Nest herauszukommen. In West-Berlin tobte der Bär. In Frankfurt agitierte Daniel Cohn-Bendit. Die Jungfilmer hielten München in Atem, und ich hatte mein Dasein bis dahin in der tiefen Provinz gefristet, weitab der Metropolen.

Ich kam nicht weit. Nur bis Calw im Nagoldtal. Das liegt im nördlichen Schwarzwald. Schmale Flusstäler, düstere Wälder, wortkarge, arbeitsame Menschen. "Dort wohnt der Pietkong", spottete mein Freund Charly, wenn ich ihn in Tübingen besuchte, wo er Theologie studierte. Charly meinte die Pietisten, jene besonders frommen protestantischen Christen, von denen er behauptete, sie hielten es bereits für Pornographie, wenn in einem Western ein ungesatteltes Pferd über die Leinwand galoppiert. Charly schleppte mich in die Uni-Clubs, wo man sein Bier zu den harten Riffs von Led Zeppelin oder The Who trank. Und dann fühlte ich mich besonders bestraft (wofür nur?), weil ich aus der tiefen Provinz in die tiefste geraten war.

Mein Chef bei der Lokalzeitung in Calw war Kurt P. Ein belesener Mensch, der Alfred Polgar und Karl Kraus verehrte und im Stile Alfred Kerrs schrieb, wenn er die allmonatliche Aufführung des durchreisenden Theaters in der Aula des Gymnasiums kritisierte.

Hermann Hesse: Ein Tagedieb, der nie etwas Rechtes gearbeitet hat

Stets umgab Kurt P. eine Wolke von teurem Rasierwasser. Er trug gerne Kamelhaar-Jacketts und statt der Krawatte einen Krawattenschal. In Calw galt er deshalb als Lebemann, und die Honoriatoren äugten skeptisch in seine Richtung, wenn er mit ihren Töchtern parlierte. Gern zitierte P. dabei Hermann Hesse, der in Calw 100 Jahre zuvor geboren war. Er tat es, wie er mir einmal verriet, unter anderem deshalb sehr gern, weil die Calwer wenig von ihrem großen Mitbürger wissen wollten. Sie hielten ihn für einen "Tagedieb, der nie etwas Rechtes gearbeitet, sondern nur den lieben langen Tag geschrieben hätte".

Auch mich baute Kurt P. ab und an in seine kleinen Auftritte ein: "Das ist unser hoffnungsvoller Volontär. Er kommt vom Bodensee. Aus Konstanz, einer Stadt von weltgeschichtlicher Bedeutung, unter anderem Ort des großen Konzils." Ich fühlte mich gleich wesentlich bedeutender, obwohl ich weder für das Konzil noch für seine bedeutsamen Ergebnisse vor 550 Jahren in irgendeiner Weise verantwortlich war.

Als Kurt P. im Tone vollkommener Herablassung wieder einmal von seinen lieben Calwern sprach, fragte ich ihn, warum einer wie er nicht längst in Hamburg sei, in Berlin oder München.. "Hören Sie, was soll ich da?", schnarrte er nur, "hierhin hat mich der Herr gestellt, damit ich den Schwarzwäldern ein wenig Kultur und Weltoffenheit vermittle." Der Mann hatte einen Auftrag. "Außerdem: Provinz ist überall. Auch in Hamburg und Berlin. Und das hier ist einfach eine herrliche Gegend!" Es kommt nur auf die Perspektive an und darauf, wie man sich einrichtet.

 

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