Lena Uphoff
15.11.2010

Beim Stöbern in meinem Schreibtisch fiel mir vor ein paar Tagen eine unscheinbare Kladde in die Hände, eine schrappige grüne Mappe voller handschriftlicher Notizen und Zeitungsausrisse. Es dauerte nur einen Augenblick, bis mir einfiel, was ich darin gesammelt hatte.

"Zwei Dinge kann ich nicht leiden: Vorurteile und Neger an der Bar."

Auf einem Zettel hatte ich notiert: "In Demut lassen wir uns von niemandem übertreffen." Ein anderer enthielt den Satz: "Ihr könnt jederzeit spontan bei uns vorbeikommen, ruft einfach zwei Wochen vorher an." Auf einem Stück Papier, aus einer Zeitung gerissen, stand: "Zwei Dinge kann ich nicht leiden: Vorurteile und Neger an der Bar." Da war sie also endlich wieder, meine langjährige Sammlung paradoxer Weisheiten. Ich hatte sie bei irgendeiner Aufräumaktion in der untersten Schublade meines Arbeitsplatzes verbuddelt. So passiert es, wenn Realchaoten Anfälle von Ordentlichkeit erleiden.

Auch für diesen Zustand fand sich ein Fingerzeig in meiner Sammlung: eine Studie, die belegt, dass das Archivieren und Verstauen von Texten und Papieren im Gegensatz zu landläufigen Erziehungsweisheiten Zeit frisst, Wichtiges in Vergessenheit geraten lässt, die Konzentration auf das Wesentliche stört. Die Studie von Fachleuten für Ergonomie widerlegt die lapidare Ironie, wie sie auf witzig gemeinten Karten in vielen Büros angepinnt ist: Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen! Wer ordnet, sortiert und abheftet, sucht mehr, sucht länger, findet seltener und vergisst häufiger.

"Alle Kreter lügen", sagt der Kreter Epimenides

Es soll aber diesmal nicht - wie schon so oft an dieser Stelle um Ordnung und Chaos gehen, sondern um den Sinn und den Nutzen des Paradoxen für Wahrheit und Erkenntnis. Generationen von Philosophen und Mathematikern haben davon gezehrt, dass die Hervorbringungen des Lebens und namentlich des menschlichen Gehirns besonders dann von tiefer liegender Wahrheit erzählen, wenn sie einen Widerspruch in sich darstellen. Die Logiker haben sich an der Frage abgearbeitet, ob ein allmächtiges Wesen einen so schweren Stein schaffen kann, dass es ihn selbst nicht heben kann. Das Paradoxon des Kreters Epimenides, der sagte "Alle Kreter lügen", wurde vom Apostel Paulus im Titusbrief (1,12) zitiert und lieferte Stoff für eine Jahrhunderte andauernde Kontroverse, ob man einen Kreter zum Zeugen gegen die Kreter nehmen könne.

Im täglichen Leben ist derart strenge Logik unmenschlich, ja geradezu irrational. Wer die Paradoxien des Alltags mit diesem absoluten Maßstab misst, mag für den Moment triumphieren. Er übersieht aber leicht, dass sie gerade in ihrer logischen Fehlerhaftigkeit die Diskrepanz zwischen Ideal und Möglichkeit, zwischen Sehnsucht und Einsicht, zwischen Wollen und Scheitern und damit jene Unvollkommenheit beschreiben, die man "menschlich" nennt.

Der Alltagskenner Gerhard Polt lässt die Spielfigur in seiner Serie "D'Anni hat g'sagt ..." einmal erklären: "D'Anni hat g'sagt: Dass die Frau Mittermeier so nachtragend ist, vergisst sie ihr nie! " Diese drei Sekunden Kabarett enthalten mehr Erkenntniswert als manches dreitägige Symposion von Soziologen und Psychologen. Ein solcher Zusammenstoß zwischen ethischem Ideal und emotionaler Reaktion ist an der Tagesordnung. Er würde erst dann zum Problem, wenn wir aufhören wollten, besser zu sein, als wir sind. Dann würden wir tatsächlich von unserer Vollkommenheit besessen sein. Wir würden grausam, unmenschlich, asozial.

"Bei diesen ständigen Witzen hört für mich der Spaß auf!"

"Wir Schwaben haben ja bekannterweise viel Humor", fuhr mich mal ein Kollege an, "aber bei diesen ständigen Witzen über uns hört für mich der Spaß auf! " Kein Grund, ihn auszulachen. Er bezeugt nur die normale Tragik der menschlichen Natur. Er wäre gerne unverletzlich, großartig, überlegen. Doch die Späße tun ihm halt trotzdem weh. Alles hat Grenzen.

Ich habe die grüne Kladde in die Schublade zurückgelegt. Alle Paradoxien notieren zu wollen ist ein zutiefst irrwitziges Unterfangen.

 

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