Wenn das so einfach wäre
Lena Uphoff
15.11.2010

Wer meinen Stiefvater fragte, wie es ihm so gehe, bekam von dem alten Herrn stets dieselbe Antwort: "Danke der Nachfrage. Kein Anlass zur Klage, aber viel Anlass dankbar und zufrieden zu sein." Theo, noch im hohen Alter geistig präsent, lebensfroh und gesellig, war genau das, was man einen Grandseigneur nennt, und den Damen gegenüber der vollendete Kavalier. Schwierigsten Dingen gewann er eine heitere Seite ab. Und noch durch tiefste Traurigkeit und Ernst vermochte er seinen Humor schimmern zu lassen. Das tat allen wohl, die ihm begegneten. Besonders die jungen Frauen in Familie und Freundeskreis liebten ihn dafür. Wie oft fragten sie ihre Männer nach einer Begegnung mit dem Senior: Kannst du dir Theo nicht ein bisschen zum Vorbild nehmen?

Kein Anlass zur Klage, aber viel Anlass dankbar und zufrieden zu sein.

Am Rande eines festlichen Abendessens hörte ich auf dem Flur des Restaurants jemanden klagen: "Ach, wie ist das alles entsetzlich! Fürchterlich, dieses Leben! Wie soll ich das aushalten?" Es war Theo, der offenbar nicht ahnte, dass ihn jemand hörte. Ich war überrascht, irritiert und, ja, durchaus auch ein wenig getröstet. Also auch Theo jammerte! Zumindest heimlich.

Bei nächster Gelegenheit, als er meine Frage nach seinem Befinden wieder mit der Standardformel beantwortete, erzählte ich ihm, was ich gehört hatte. Theo schmunzelte: "Da musst du dich verhört haben!" Ich ließ nicht locker. Ich setzte ihm auseinander, dass es doch viel besser und auch leichter für ihn sei, wenn er uns wisssen ließe, dass es ihm nicht gut gehe. Geduldig hörte er mich an, schwieg einen Augenblick und erklärte: "Gut, mag sein. Ich habe es im Leben immer so gehalten, dass man seine Mitmenschen nicht ständig mit seinen Wehwehchen und Malaisen belästigt. Man darf sich nicht so wichtig nehmen. Früher nannte man das Haltung, mein Lieber."

Theo ist seit fast zehn Jahren tot. Er starb genau einen Tag, bevor unser Sohn auf die Welt kam. Neunzig ist er geworden. Bis zum letzten Tag, von Krankheit und Sterben gezeichnet, hatte er "Haltung" bewahrt.

Mit der Zeit dämmert mir, dass diese "Haltung" etwas Humanes ist.

Was er mit "Haltung" meinte, war mir lange fremd geblieben. Eine Tugend aus Zeiten, in denen man sich nicht getraute, Schwäche zu zeigen, weil man sonst als Schwächling gegolten hätte. Aber mit der Zeit dämmert mir, dass diese "Haltung" etwas Humanes ist. Muss man denn tatsächlich jede Laus, die einem gerade über die Leber rannte, seinen Mitmenschen als drohendes Ungeheuer vor Augen führen? Ist es nicht eine Zumutung gegenüber den Nächsten, mitleidheischend durch die Gegend zu ziehen: Ich Ärmster! Zum Leiden bin ich auserkoren!

Dem großen Papst Johannes XXIII. wird das Lebensmotto zugeschrieben: Giovanni, nimm dich nicht so ernst! Immer wenn ihm besonders jämmerlich zu Mute gwesen sei, habe dieser Satz Seine Heiligkeit vor weinerlichem Selbstmitleid bewahrt und ihm ermöglicht, den Blick auf die Not der Mitmenschen zu richten.

Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich! Selbstmitleid ist letztlich nichts anderes als Selbstverliebtsein. Indem ich dies schreibe, sehe ich Theo lächelnd den Finger heben: "Nicht übertreiben mit den frommen Lehren! Bei sich selbst anfangen." Wer weinte und klagte und keinen Anlass sah, "dankbar und zufrieden zu sein", dem hörte Theo ernsthaft zu und tröstete ihn. Dann brachte er ihn mit einem freundlichen Wort und einer kleinen Geschichte auf andere Gedanken.

Vorgestern kam ich abends völlig erledigt aus der Redaktion nach Hause. Frau und Sohn hatten sich just über die korrekte Erledigung der Schularbeiten gestritten und klagten mir ihr Leid. Und wer tröstet mich!, raunzte ich zurück. Ist gar nicht so einfach mit der "Haltung". Theo hätte mir sicher Trost gespendet.

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