Lena Uphoff
15.11.2010

Die Vorrunde der Fußball-WM 2006 ist beendet, bevor sie angefangen hat. Tage, ja Wochen vor dem ersten Anpfiff haben die Experten in Gazetten und TV-Kanälen bereits bis ins Kleinste durchgesprochen, warum die deutsche Nationalmannschaft schon nach den ersten drei Spielen ausgeschieden, ein oder zwei Runden weitergekommen oder doch ins Finale vorgestoßen sein wird. Noch Fragen? Ja. Wie fühlen wir uns wirklich, wenn Deutschland früh ausscheidet? Wie geht's uns, sollten die DFB-Kicker den Pokal im eigenen Lande tatsächlich holen? Erinnern wir uns dankbar jener Experten, die das eine oder andere früh geweissagt haben?

Hegel, Marx, Sepp Herberger

Das Bewusstsein bestimme das Sein, wird Hegel gern zitiert und Marx mit der umgekehrten These, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, dekretierte einst Fußballphilosoph Sepp Herberger. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel lautet die Arbeitshypothese all der Neoherbergers in Viererketten und an Stammtischen: Wir wissen zwar noch nicht, wie es kommt, aber längst, wie es ausgegangen sein wird.

Obwohl Herbergers Theorem somit als überwunden betrachtet werden kann, bedienen sich die heutigen Fußballweisen noch immer desselben Vokabulars, mit dem man schon vor sechzig Jahren die Geheimnisse des Fußballs zu erklären versuchte. Zeitlos modern geblieben ist zum Beispiel das Wörtchen "undankbar". Es taucht auf, wenn der Experte um eine Einschätzung der kommenden Gegner gebeten wird: Costa Rica, hmm, sicher ein undankbarer Gegner. Polen? Eine undankbare Aufgabe. Ecuador? Südamerikaner sind immer undankbare Gegner.

Wann ist jemand undankbar? Eigentlich ganz einfach: Wenn man für eine Wohltat nicht "Danke" sagt. Was soll Klinsmanns Truppe den wackeren Costa-Ricanern Gutes tun? Soll sie die Mittelamerikaner gewinnen lassen, damit sich diese bedanken? Oder sind die Außenseiter bereits dankbar, wenn die Deutschen ­ sagen wir ­ nach einem 1:0 oder 2:0 darauf verzichten, weitere Tore zu schießen?

Es ist ausgesprochen undankbar, sich zu wehren.

Bei der Weltmeisterschaft vor vier Jahren schlug Deutschland Saudi-Arabien mit 8:0. Und was sagten die Experten? Die Saudis waren ein dankbarer Gegner! Vier Tage später spielten Rudi Völlers Leute 1:1 gegen Irland. Die Kommentatoren: Das Team von der grünen Insel war der erwartet undankbare Gegner. Wir lernen: Ein dankbarer Gegner im Fußball lässt sich die Bude voll hauen. Und: es ist ausgesprochen undankbar, sich zu wehren.

Fußballferne Menschen können das kaum verstehen. Hinzu kommt, dass der Begriff "undankbarer Gegner" nicht auf alle Teams und in jedem Fall anwendbar ist. Brasilien zum Beispiel ist für Deutschland niemals ein undankbarer Gegner, selbst dann nicht, "wenn wir schwer bestraft worden sind". Die Brasilianer spielen grundsätzlich einen schönen Fußball, während die Italiener nur gewinnen wollen. Normal kann man, sagen wir mal, natürlich gegen Italien verlieren. Wobei wir für die Azzurri im Testspiel Anfang März ein dankbarer Gegner waren. Was im deutschen Bewusstsein allerdings keine Rolle spielt. Sein und Bewusstsein der Deutschen haben schlicht nichts miteinander zu tun, zumindest wenn es gegen Italien oder Brasilien geht.

Halten wir uns an die zuständigen Philosophen, also an Herberger oder seinen Ruhrpott-Kollegen Adi Preißler. Während der "Chef" messerscharf erkannte, dass der nächste Gegner immer der schwerste sei, sprach Adi Preißler vor fünfzig Jahren bereits das Schlusswort zu allem Rätselraten und Spekulieren: "Grau is alle Theorie -­ entscheidend is aufm Platz." Preißler wäre im Fernsehzirkus dieser Tage ein ausgesprochen undankbarer Experte gewesen.

Seien wir dankbar, wenn es endlich losgeht, die Besseren gewinnen und Deutschland sich nicht blamiert.

 

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