Der Chefredakteur von Chrismon und evangelisch.de, Arnd Brummer
chrismon Chefredakteur Arnd Brummer
Sven Paustian
Arnd Brummer ist Chef­redakteur von chrismon
Lena Uphoff
27.07.2015

Manchmal – ich gebe es nur ungern zu – habe ich einfach keinen Kopf zum Lesen. Nicht einmal fernsehen mag ich dann. Und mit anderen reden? Schon gar nicht. Ruhe! Aber schlafen kann ich auch nicht. Und nur rumhocken und Musik hören – nee! Dann nehme ich eines meiner Sudokuhefte zur Hand. Nicht zu schwer und nicht zu leicht, die mittlere Kategorie der Zahlenrätsel. ­„Niederschwellige  Beschäftigung entspannt den Kopf“, kommentiert das mein Freund Manfred. Und der muss es als Psychiater schließlich wissen.

"Ich krieg' das doch gebacken!"

Aber vorgestern bin ich schier verzweifelt. Ein Rätsel der leichteren Art sollte das sein? So stand es wenigstens oben rechts auf der Seite. So ein Ding löse ich normalerweise in zehn Minuten. Und jetzt machte ich schon mehr als eine halbe Stunde dran rum. Der Ärger stieg in mir auf. „Ich krieg’ das doch gebacken“, knirschte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Dranbleiben! Nicht ­auf­geben! Weitermachen!

Freunde. Freundinnen. Freundschaft

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Laut einer Umfrage im Magazin chrismon sind Freunde für über 80 Prozent der Menschen ein wichtiges Kriterium für Heimat. Liebesbeziehungen werden als deutlich fragiler empfunden, Familienbande bedeuten nicht immer Glück. „Freunde. Freundinnen. Freundschaft.“ Ein Lesebuch. Herausgegeben von Arnd Brummer. Bei der edition chrismon erhältlich (über die Hotline 0800 / 247 47 66 oder unter www.chrismonshop.de).

Man kennt das. Die Sprüche der Eltern, der Lehrer. Sie sitzen tief im Gemüt. Und vor diesen imaginären Instanzen im eigenen Selbst begänne man sich doch zu schämen, legte man das Rätsel einfach weg. Also, Arnd! Wäre doch gelacht! Ja!

Ich warf das Heft in die Ecke und holte mir ein Glas Wein. Ich schaute in den sommerlichen Abendhimmel. Dann klingelte das Telefon. Mein Cousin war dran, den ich sicher schon ein halbes Jahr nicht mehr gesprochen hatte. Wir plauderten über dies und das. Er erzählte von seinem jungverheirateten Sohn und ich von unserem Sohn und seinem Studium. Während wir ­sprachen, fischte ich mein Sudokuheft aus der Zimmerecke neben der Stehlampe.

Dann beendeten wir das Telefonat mit herzlichen Grüßen an Ehepartnerinnen, Brüder und Schwestern. Noch ganz beschäftigt mit dem, was mir Vetter Hans gerade mitgeteilt hatte, ­blätterte ich im Rätselheft, kam auf die Seite mit dem Ärger-­Sudoku. Nahezu geistesabwesend sah ich, wie meine Hand den Stift ergriff und unten rechts die Zahl 5 eintrug, genau dort, wo sich mein Ärger aufgebaut hatte. Innerhalb von ein, zwei Minuten schloss mein Stift – 7, 9, 7, 3 – alle anderen Lücken. Perfekt gelöst!

Aber wie? Für Psychiater Manfred kein großes Thema. Als ich ihm die Sudokuszene schilderte, kommentierte er: „Du hast erlebt, was der Volksmund ‚verbohrt‘ nennt. Du hast jede Distanz und Lässigkeit verloren. Dir fehlte die Muße, stattdessen ergriff dich der Grimm des Muss!“ Ja, gut! Ich dankte ihm ein wenig ironisch für die weise Bewertung. Auf den Heimweg musste ich allerdings – mir und ihm – eingestehen: Genau so war es. Aber warum nur? Aus verletzter Eitelkeit? Schließlich war ich der Einzige, vor dessen innerem Auge ich versagt hatte. Oder waren es doch die bereits beschriebenen Geis­ter der einstigen Autoritäten, die mich noch immer begleiteten?

Ob Deckenfresken oder Sudoku - Distanz macht locker

Einen gab es in der Galerie der ehemaligen Pädagogen, der uns junge Leute dereinst gegen jede preußische Disziplin unter­richtet hatte. Einen Kunstlehrer, natürlich. Als er uns die Fresken­malereien von Michelangelo, Raffael oder Tiepolo erklärte, die ja auf feuchtem Putz entstanden waren, meinte er: „Das musste schnell gehen. Und da lagen sie auf ihren hohen Gerüsten, zwanzig Meter über dem Boden und nicht mal ­einen halben Meter von ihren Bildern entfernt. Und dann fragt man sich, wie die imposante Gesamtwirkung entstand. So dicht am Gemälde hatten die doch gar keine Übersicht.“  Und deshalb, fuhr er fort, sei es wichtig gewesen, dass die Künstler mal den Pinsel weggelegt hätten und von dem hohen Gerüst gestiegen seien. „Von unten gucken, wie das da oben wirkt. Distanz einnehmen. Und dann mal rausgehen aus dem Gebäude und in die Sonne blinzeln. Das erhellt und erhält die Kreativität.“

Danke, fuhr es mir durchs Hirn. Nach vierzig Jahren! Wer Rätsel lösen will, sollte nicht immer dranbleiben, sondern durchaus mal loslassen. Gleichgültig ob er Deckenfresken malt oder Sudokuhefte vollschmiert. Manfred war übrigens mal ein ­Klassenkamerad.

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Erstaunlicherweise sind die meisten Artikel und Videos bei chrismon von einer beispiellosen Distanzlosigkeit geprägt.

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