Lena Uphoff
19.03.2012

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Dieser Satz ziert ein Werbeblättchen, einen Flyer, meines bevorzugten Radioprogramms, des Deutschlandfunks. Er ist eine dieser merkwürdigen Formeln, die sich in meinem Hirn festgesetzt haben und die mich in ruhigen Phasen meines Seins, in denen ich nur etwas mache und nichts zielgerichtet denke, von hinten überfallen.

Ein Satz, der mich ärgert? Ein Satz, der mich fordert? Ein Satz, der mich beschäftigt. Obwohl ich mich gar nicht mit ihm befassen möchte. Er befasst sich mit mir. In meinem halbbewussten Sein dreht er sich um. Tut er das? Oder bin ich es, der ihn verwandelt? „Wer nichts glaubt, muss alles wissen“, heißt er dann. Oder: Wer nichts ist, muss alles haben. Oder: Wer nicht lügen kann, muss immer ehrlich sein.

Wer nichts denken will, muss etwas hören

Das ärgert mich: Ich sitze im Auto und das Karussell in meinem Oberstübchen nimmt Fahrt auf. Ich versuche, das Programm zu wechseln. Ich schalte das Radio ein. Was läuft? Natürlich exakt der Sender, der immer läuft. Und schon wieder assoziiert es in meinem Innern: Wer nichts denken will, muss etwas hören. Aber das geht nicht, denn schon bin ich wieder in dieser blöden Spur.

Was ist das für ein Wissen, das einem den Glauben erspart? Und von welchem Glauben ist die Rede? Und woher kommt dieses befehlende „muss“? Ich habe den Eindruck, je mehr ich zu wissen glaube, desto mehr muss ich dem alten Sokrates recht geben: Ich ahne zumindest, dass ich eigentlich ziemlich wenig, ja vielleicht wirklich gar nichts weiß. Das geht mir aber auch so, wenn ich ernsthaft über Glauben nachdenke.

Gott sei Dank, die Ampel ist rot

Ist doch alles Unsinn! Oder ist es etwa der Sinn? Wer nicht hören will, muss fühlen. Gott sei Dank, die Ampel ist rot. Ich muss mich wieder auf das Fahren konzentrieren. Habe ich das wirklich Gott zu danken? Oder ist die Ampel rot, weil ich nichts weiß? Da hilft nur noch ein radikaler Wechsel. Radio aus, CD-Spieler anwerfen. Was läuft? Led Zeppelin, „Dazed and Confused“. Genau.

Benommen und verwirrt. Warum werde ich diesen blöden Satz, diese kategorische Pädagogenbehauptung, nicht los? Ich konnte diese „Wer..., der...“-Logik nie leiden, was wiederum überhaupt nichts mit Werder Bremen zu tun hat.

Der Unterschied zwischen Mathe- und Reli-Lehrer

Wenn Mathelehrer fragten, wie viel x und y sei oder was bei a minus c herauskomme, durfte man auf keinen Fall sagen: „Ich glaube 14.“ Die postwendende Antwort lautete: „Glauben heißt nicht wissen.“ Religionslehrer sahen das anders. Gott sei Dank?

Glauben und Wissen als Gegensatzpaar aufzubauen ist jedenfalls ähnlich sinnvoll, wie Denken gegen Handeln zu setzen oder Essen gegen Trinken oder Träumen gegen Spielen oder Schlafen gegen Wachen oder Humor gegen Ernst. Es stimmt: Wer mehr weiß, kann besser zweifeln. Aber dann will ich noch mehr wissen und stelle fest, dass ich erst recht glauben muss. Und je mehr ich glaube, desto mehr wird mir bewusst, dass meine Wahrnehmung nicht dasselbe ist wie die Existenz des Wahrgenommenen.

Wer nicht abbiegt, muss einen Umweg fahren

George Berkeleys Baum-Beispiel. Der irische Theologe und Philosoph hat sich damit beschäftigt, ob ein Baum auch existiert, wenn ihn niemand wahrnehmen, niemand sehen oder anfassen kann. Existenz, sagt Berkeley, frei zitiert, bedeutet die ständige Möglichkeit wahrgenommen werden zu können. Soll ich das glauben? Ich weiß nicht so recht. Aber ich finde es großartig, dass ich durch diesen verqueren Satz auf die Idee komme, Berkeley mal wieder zu lesen.

Irgendwo muss noch ein Band mit Berkeley-Texten in meinem Regal stehen. Habe ich sicher zwanzig Jahre nicht in der Hand gehabt – glaube ich, weiß ich nicht mehr genau. Und jetzt habe ich vor lauter Denken die Abzweigung verpasst. Wer nicht abbiegt, muss einen Umweg fahren!

Wer nichts weiß, muss alles glauben – ich weiß nicht, ob ich diesen kruden Blöd-Sinn je wieder los werde. Will ich das denn? Hat der Deutschlandfunk nicht einfach geniale Werbeleute? Ist es nicht das Ziel aller Werbung, in die Köpfe und Gedanken der Leute zu dringen? Bei mir jedenfalls haben sie es geschafft.

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