So ein Ausnahmetalent ist doof für Normalos
Ausnahmetalente und Ausnahmefiguren machen uns ganz Gewöhnlichen ganz schön Stress.
Tim Wegner
26.06.2019

Hiermit stelle ich mich zur Ver­fügung als Durchschnitt. Denn ohne Normalos wie mich gäbe es keine Ausnahmefiguren. Und ­davon gibt es jetzt immer mehr. Die Snowboarderin Chloe Kim ist angeblich ein Ausnahmetalent, die Balletttänzerin Julia Köhler und die Tischtennisspielerin Josephina 
Neumann. Die ist gerade erst neun geworden, früher hätte man gesagt: ­
Die hat Talent. Aber jetzt kommt man schon kurz nach Verlust der Milchzähne in die Ausnahmeklasse.

Das Attraktive am Ausnahmetalent ­besteht darin, dass der Ausnahmetalententdecker selber mit aufs Podest steigt. Wenn der Intendant seine Moderatorin nicht nur als Talent, sondern als Ausnahmetalent lobt, wirft das für den Bruchteil einer Sekunde 
einen Heiligenschein auf sein altes, graues Funkhaus. Und wenn der 78-jährige Publizist über den leider schon verstorbenen Künstler raunt, der sei ­eine Ausnahmefigur gewesen, raunt es bei uns jüngeren Frauen mit: Um 4.30 Uhr aufstehen, den Farbpinsel abwechselnd in den Aschenbecher und in die Kaffeetasse tauchen und dann auf Veuve Clicquot umsteigen – diese Zeiten kommen nicht ­wieder. Ein Ausnahmepublizist porträtiert einen Ausnahmekünstler. Da bleiben wir für immer Durchschnitt, man hilft ja gern.

Wunderbar gemacht

Mir fällt dieses alte Sponti-Plakat ein. Jeder Mensch ist Ausländer. Fast überall. Eigentlich sind wir alle eine Ausnahme. Von fast allem. "Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar ­gemacht bin", heißt es in Psalm 139. Und da steht nicht: dass ich extraordinär und viel ­besser als alle anderen gemacht bin. Uff.

Wir wollen in chrismon Superlative und Übertreibungen vermeiden. Die meisten ­Menschen, über die wir schreiben, haben ­helle Seiten, aber auch dunkle. Drum haben wir unlängst die Rubrik "Vorbilder" umgetauft in "Entscheidung". Wir suchen nach dem ­einen Moment, in dem jemand die Abzweigung nach links oder rechts genommen hat, in dieser Ausgabe die Umweltaktivistin Wangari Maathai. Die nannte der Präsident von ­Kenia nicht Ausnahmetalent. Sondern "die verrückte Frau". Und das war in der Geschichte der Frauen meistens – eine Auszeichnung.

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