Den Sonnenuntergang im Kontext verhandeln
Alles wird heute verhandelt und ausgehandelt. Nur die Gerichte selber kommen nicht mehr zum Verhandeln
Tim Wegner
30.07.2018

 Seit ich Journalistin bin, wird immer mehr verhandelt. In den 90ern war ich Gerichtsreporterin, da war klar: Es wurde über Mord und Totschlag verhandelt, gemäß Duden: "zu Gericht ge­sessen". Allerdings wurde mehr und mehr gedealt statt verhandelt, weil die Gerichte überlastet und die Anwälte clever waren: Ein Deal vor Gericht spart Arbeit und oft auch Geld. Ein Kuhhandel war das manchmal, ­Geständnis gegen Haft­rabatt – für die Gerechtigkeit so lala.

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".
Aber das Verhandeln blieb mir ja erhalten. In allen Bereichen, bei allen Zeitungen. Ob Männer oder Frauen den Müll 
runtertragen, ob ein Kind grüne Brokkoli essen soll – alles Verhandlungssache. Gut so.

Aber jetzt hat das Verhandeln ein absurdes Terrain erobert: das Feuilleton. Lese ich gerne als chrismon-Chefin, dass am Düsseldorfer Hauptbahnhof Künstlerinnen mit Obdachlosen Schaufenster gestalten. Verstehe ich sofort. Was ich nicht verstehe: Wenn die Kunstkritik drum rumschwurbelt. Da werden Sonnenuntergänge nicht etwa gezeigt. Sondern "im globalisierten Kontext verhandelt", so WDR 3. Aber nicht nur die Sonne scheint Gegenstand von umständlichen Auseinandersetzungen zu sein, sondern die ganze Stadt. In einem Pressetext zur selben Ausstellung: "Das Kunstwerk verhandelt den Zustand des städtischen Umfelds." Echt jetzt? Das Kunstwerk verhandelt einen Zustand?

Der neue Roman von Frank Schätzing ­"verhandelt die Dilemmata der Künstlichen Intelligenz (KI)" – da fragt man sich: Hat die 
KI des Feuilletonisten aus "behandeln" aus Ver­sehen "verhandeln" gemacht? Dann ist es eine KD, eine künstliche Doofheit. Oder wird das englische "to deal ­with" schlecht übersetzt? Dann handelt es sich um DD, um dummes Deutsch.

Verhandelt, im Wortsinn und vor echten Gerichten, wird im August und im September gegen mehrere Ärztinnen, die Schwanger­schaftsabbrüche vornehmen und darüber informieren. Sie bekommen viele Hassmails, die auch unsere Redaktion erreichen. Die Ärztin Kristina Hänel habe ich besucht. Ich traf eine evangelische Christin, die über sich sagt: "Wer mich mit Gott teeren und federn will, ist nicht wahr­haftig."

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