Islamisten vertreiben die religiösen Minderheiten aus dem Land. Ein humanitärer Kraftakt ist erforderlich.
15.11.2010

"Verschwindet! Sonst töten wir euch! " Christen, die aus dem Irak nach Syrien flohen, berichten von derartigen Drohungen in Flugblättern, Briefen und Hasspredigten. Sie sollen das Land verlassen - oder zum Islam übertreten. Als Beweis für die Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung sollen sie islamistischen Kämpfern ihre Töchter überlassen.

Über vier Millionen Iraker befinden sich auf der Flucht

Täglich ist von neuen Gewalttaten im Irak zu hören. Längst ist daraus eine der größten Flüchtlingskatastrophen weltweit geworden: Über vier Millionen Iraker befinden sich auf der Flucht, die Hälfte innerhalb ihres Landes, die Hälfte in die Nachbarstaaten, vor allem Syrien und Jordanien. Viele Angehörige nichtmuslimischer Minderheiten fliehen vor der Gewalt: Jesiden, Mandäer und gerade Christen.

Kommt es nicht zu einer raschen Änderung der Lage im Irak - und wenig deutet darauf hin -, so droht der fast zweitausendjährigen Geschichte der Christen auf dem Gebiet des heutigen Iraks das Ende. Von den einst bis zu 1,5 Millionen Christen sollen nach Angaben der Vereinten Nationen derzeit noch rund 600 000 im Irak leben - ungefähr 100 000 davon als Binnenvertriebene im kurdischen Norden des Landes.

Radikale Muslime setzen christliche Kirchen und Einrichtungen in Brand oder zerstören sie mit Bomben. Sie zertrümmern Lebensmittelläden der Christen, weil es dort Alkohol zu kaufen gibt, bedrohen christliche Frauen, vergewaltigen und ermorden sie, weil diese den Kleidungsvorschriften der radikalen Muslime nicht Folge leisten.

Den Schiiten, die unter Saddam Hussein brutale Verfolgung erlitten, gelten die Christen als Verbündete des einstigen Regimes, gewährte der Diktator doch religiösen Minderheiten einen gewissen Schutz und unterdrückte islamistische Tendenzen.

Die Sunniten vor allem in Bagdad sehen in den Christen hingegen in erster Linie Helfer der "christlichen" Besatzer. Dass die nicht selten Englisch sprechenden Christen gern für internationale Organisationen arbeiten, gilt als Beleg für den "Verrat" und macht die Christen oft zum Opfer von Attacken, die den internationalen Hilfsorganisationen gelten.

Im Februar besuchte der Hohe Flüchtlingskommissar der UN , António Guterres, die nordsyrische Stadt Aleppo, in der sich über 17 000 geflohene Iraker aufhalten, die Mehrheit von ihnen Christen. Der Besuch war ein wichtiges Zeichen der Unterstützung. Und in der Politik in Berlin ist das Thema, zum Teil dank des Einsatzes der Kirchen, angekommen. Schlagzeilen macht es freilich nicht.

Exodus der Christen aus dem Irak ist nicht mehr rückgängig zu machen

Vieles spricht dafür, dass der Exodus der Christen aus dem Irak nicht mehr rückgängig zu machen ist. Dabei kennt die im Oktober 2005 in einem Referendum vom irakischen Volk angenommene Verfassung durchaus das Bekenntnis zur Gleichheit aller Irakerinnen und Iraker ohne Unterscheidung nach Religion oder Weltanschauung. Und auch wenn diese Verfassung den Islam zur Staatsreligion und zu "einer Hauptquelle der Gesetzgebung" erklärt, so werden die Christen doch ausdrücklich als eigene Religionsgruppe anerkannt. Doch das ist bloße Theorie nach vielen Jahren, in denen die religiösen Minderheiten ethnischen wie konfessionellen "Säuberungen" ausgesetzt waren und sind.

Jetzt ist ein Kraftakt der Völkergemeinschaft erforderlich - wie im Jahr 1975, als eine halbe Million Flüchtlinge aus Indochina, die sogenannten "Boat People", in vielen Ländern der Welt eine neue Heimat fanden. Rund 30 000 kamen damals nach Deutschland. Es ist dringend Zeit für eine ähnlich große Kraftanstrengung.

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