Johanna HabererPrivat
20.10.2010
Sexagesimae
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein zweischneidiges Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft geben müssen.
Hebräer 4,12-13

Im Jahr der Bibel wurde über das Wort Gottes viel geschrieben; über die Bibel im Gedächtnis unserer Kultur und die Bibel in unserem Leben. Was aber das Bibelwort bewirken kann, wenn man es als Richt- und Leitschnur des Lebens betrachtet, das kann man nur dem gelebten Leben abspüren, das heißt, wenn Menschen beginnen zu erzählen, was Worte der Bibel mit ihnen gemacht haben: Mancher wurde wachgerüttelt und zurechtgebogen, mancher getragen und getröstet. Dies zeigt: Nicht wir übersetzen diese lebendigen Worte der archaischen Psalmtexte oder der Erzählungen aus alten Zeiten in unser Leben und in unsere Zeit, sondern es ist genau umgekehrt. Wenn wir sie immer wieder lesen, diese Texte, die ja etwas von gutem dunklem Brot an sich haben, das man lange kauen kann, dann schreiben sich diese Texte in unser Leben ein ­ und Jahrtausende schrumpfen vor der Aktualität des biblischen Wortes.

Von dieser Kraft des Wortes Gottes wusste der Dichter und Schriftsteller Jochen Klepper (1903­1942), dem unser Gesangbuch Texte verdankt, die direkt aus der Bibel hervorgezaubert scheinen: "Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern", so sangen wir im Advent und "Der Du die Zeit in Händen hast, so nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen" zu Silvester.

Jochen Klepper beging zusammen mit seiner jüdischen Frau und seiner Stieftochter Selbstmord, als er begriff, dass sie keine Chance zum Überleben in Deutschland hatten. Damals war er 39 Jahre alt und der Gedanke, wie viel lebendiges Wort er noch hätte schaffen können, wie viel Literatur ­ gesättigt von Bibel und Erfahrung ­ er noch hätte schreiben können, wenn er das so genannte Dritte Reich überlebt hätte, lässt einen verzweifeln.

Jochen Klepper wohnte in den biblischen Worten, ohne sie platt auf sich selbst anzuwenden. Er schreibt: "Ich merke nur, dass das Leben unter dem Begreifen von Bibelworten hingeht, von denen man keine auf eine bestimmte Situation hin anzuwenden oder nur auszudeuten wagt. Nie mehr, glaube ich, werde ich Bibelworte auf einzelne Situationen des Lebens beziehen. Aber über dem ganzen Leben stehen sie und halten es und treiben es vorwärts und keine Müdigkeit, keine Enttäuschung, keine Wut kann dagegen an."

Hat diesem Frommen, diesem Heiligen des zwanzigsten Jahrhunderts die Bibel nicht geholfen, als er keinen Ausweg mehr sah? Verurteilt die Bibel nicht die Selbsttötung so grundsätzlich, dass nur der Verräter Judas damit in Verbindung gebracht werden kann? Ja, hätte das Wort Gottes dem theologisch gebildeten Schriftsteller Klepper nicht durch die Seele schneiden müssen, bevor er Hand an sich legte? Der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider hat eine andere Deutung für das Schicksal seines Freundes gefunden: "Jochen Klepper nahm seine Frau und die jüngste Tochter an der Hand und eilte zu Gott, ehe er sie gerufen hatte. Das war ein Akt des Glaubens: Schütze, die ich nicht mehr schützen kann."

Im 102. Psalm heißt es: "Er demütigt auf dem Wege meine Kraft; er verkürzt meine Tage. Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!" Wie viele Menschen müssen das aushalten, dass ihre Tage scheinbar vorzeitig enden! Der bibeltreue Klepper hat in der ersten Fassung seines Liedes über die Zeit die Erfahrung vom gewaltsam verkürzten Leben ans Ende gesetzt: "Lass, sind die Tage auch verkürzt, wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt ­ uns dir nur nicht entgleiten."