Evelyn Dragan
13.05.2011
1. Sonntag nach Trinitatis
Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.
Johannes 3,22-30

Als ich ein Kind war, kam eines Tages die Erfahrung, dass ich fast so groß wie meine Mutter war. Auf einmal begegneten wir uns auf Augenhöhe. Jahre später erlebte ich das nach und nach wieder – nun als Mutter mit meinen Töchtern.

Aufwachsen, erwachsen, alt werden – das ist der Rhythmus des Lebens. Für Eltern ist das eine beglückende Erfahrung. Das Kind wachsen sehen, es begleiten, ­erleben, wie es selbstständiger wird und eigene Wege geht. Es lernt laufen, Rad ­fahren, fährt irgendwann mit dem Auto davon. Und du selbst merkst, wie das ­Leben den Zenit überschritten hat: Ich werde langsamer, Wege werden mühsamer. Kein einfacher Prozess, aber eine unvermeidbare Veränderung.

Es ist menschliche Größe, einen an­deren über sich hinauswachsen zu lassen. Als Eltern fällt uns das in der Regel leicht. Meine Mutter hat die Worte von Johannes dem Täufer gern zitiert, als wir größer wurden. Es war ihr eine Freude, uns wachsen zu sehen. Und je älter ich werde, desto besser kann ich das nachempfinden.

Johannes der Täufer lässt sich nicht provozieren

Das Johannesevangelium dagegen berichtet von einer klassischen Konkurrenzsituation. Jesus ist mit seinen Jüngern zusammen und tauft. Johannes hält sich nicht weit von dort mit seinen eigenen Jüngern auf und tauft ebenfalls. Unter normalen Umständen ist das Ausgangsposition für ein gegenseitiges Messen: Wer tauft mehr Menschen, wer findet die besseren Worte?

Offensichtlich versuchen andere, einen Wettbewerb anzustacheln, wie das Johannesevangelium erzählt. Hörst du es nicht, Jesus tauft auch! Und zu ihm kommen viele, ja mehr als zu dir! Das sind Stimmen derjenigen, die eine Auseinandersetzung geradezu anstacheln wollen. Und die Spaß daran haben, zuzuschauen, wie zwei gegeneinander antreten.

Johannes der Täufer lässt sich nicht provozieren. Stattdessen zeigt er Größe und nimmt sich selbst zurück. Er richtet sein eigenes Tun und Reden darauf aus, Jesus den Weg zu bereiten. Johannes zeigt eine tiefe innere Erkenntnis: Jesus ist mehr als ich, wichtiger, entscheidender. Offenbar kann er das völlig neidfrei anerkennen. Auch das ist Freiheit.

Manche Menschen können das. Sie begeistern sich für einen anderen und reiben sich geradezu für ihn auf. Sie stehen stolz in der zweiten Reihe, wenn die Person, für die sie sich engagieren, in der ersten Reihe glänzt. Da freut sich zum Beispiel die Sekretärin, wenn ihr Chef Erfolg hat. Da ist der Fernsehredakteur glücklich, wenn die TV-Moderatorin eine gute Einschaltquote hat. Da ist der Trainer stolz, wenn sein Schützling eine Medaille gewinnt. Solch ein neidloses Sichmitfreuen ist allerdings nicht die Regel. In einer Welt des Konkurrenzkamp­fes wird das selten. Und es trägt auch eine Gefahr in sich, wenn ich mich ganz für eine andere Person engagiere. Wenn sie nicht mehr wächst oder gar abstürzt, dann verliere auch ich.

Zeichen von eigener Balance und Verwurzelung

Er muss wachsen, und ich muss mich zurücknehmen – für mich sagt dieser Vers, der Johannes dem Täufer zugeschrieben wird, zweierlei: Das eine bezieht sich auf den Rhythmus des Lebens, den wir annehmen können. Wachsen und Vergehen, das ist der Kreislauf, in dem jeder Mensch steht. Das andere ist der Blick auf mein Verhältnis zu anderen Menschen. Wenn wir uns mitfreuen können an den Erfolgen und dem Wachsen anderer, so ist das auch eine innere Freiheit. Ich weiß, wer ich bin, was ich kann, wohin ich gehöre.

Sich mitfreuen am Wachsen anderer ist ein Zeichen von eigener Balance und Verwurzelung. Es ist auch eine Haltung der inneren Freiheit. In der Gemeinschaft der Getauften wäre das ein gewichtiges Zeichen: Es geht um die Nachfolge Jesu, in die wir durch die Taufe gestellt sind. Und nicht darum, wer sich dabei am besten ­hervortun kann. Es sind viele Glieder, aber ein Leib, viele Gaben, aber ein Geist.

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