Der Matthäuseffekt
Wer bereits Aufmerksamkeit hat, "dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben"
Ahaok
Mat­thäuseffekt: Wie Social Media von Polarisierung lebt
Das Spiel mit der Aufmerksamkeit
Eine Schlange? Da stellt man sich an! Denn was viele begehren, kann nur gut sein. Auch die Sozialen Medien nutzen diese Aufmerksamkeitslogik, die schon der Evangelist Matthäus beschrieb
Dirk von GehlenGerald von Foris
31.01.2023
Denn wer da hat, dem wird gegeben ­werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.
Matthäus 25,29

Da vorne an dem kleinen Geschäft am Marktplatz stehen die Leute in einer langen Schlange an. Wenn dieser Satz Ihr ­Interesse geweckt hat, dann haben Sie das verinnerlicht, was man den Matthäus­effekt der Aufmerksamkeit nennt. Seinen Namen hat dieses Phänomen aus der Bibel. In ­Matthäus 25,29 heißt es: "Denn wer da hat, dem wird gegeben ­werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden."

Dirk von GehlenGerald von Foris

Dirk von Gehlen

Dirk von Gehlen, geboren 1975, ­beobachtet als ­Journalist und ­Redner die ­digitale Transformation von Kultur, ­Gesellschaft und Unternehmen. Er lebt in München.

Der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton beobachtete in den 1960er Jahren in der Wissenschaft erstmals den Effekt, der auch auf dem Marktplatz gilt und den er nach dem Evangelisten bezeichnete: Je bekannter Forscherinnen und Forscher waren, umso häufiger wurden sie in anderen Beiträgen zitiert und als Referenz gewürdigt – was wiederum ihre Bekanntheit erhöhte.

Dieses Prinzip ist wiederholt in zahlreichen Lebens­bereichen nachgewiesen worden. Im digitalen Ökosystem des Internets wird es häufig als Netzwerkeffekt bezeichnet, den sich Plattformen wie Amazon, Facebook oder Airbnb zunutze machen. Diese Plattformen werden für einzelne Nutzerinnen und Nutzer immer attraktiver, je mehr Angebote sich dort finden – also je mehr Nutzerinnen und Nutzer sie nutzen. Doch dieser Matthäuseffekt gilt nicht nur für die Wissenschaft oder das Web – er gilt auch für die Art und Weise, wie Sie Ihre Aufmerksamkeit verteilen, zum Beispiel vor dem kleinen Geschäft am Marktplatz.

Was viele interessant finden, kann nicht uninteressant sein. Dieser Satz ist nicht nur die Ableitung aus dem Mat­thäuseffekt, der unsere Aufmerksamkeit zum Beispiel auf dem Marktplatz lenkt. Dieser Satz ist auch die wichtigste Rechenanweisung für die Algorithmen der ­Suchmaschine Google und für die Timelines von Twitter, Tiktok und ­Instagram. Wer da bereits Aufmerksamkeit hat, "dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben".

Wer eine Anfrage bei Google eingibt, erhält Ergebnisse, die genau nach diesem Prinzip gefiltert wurden. Google gewichtet das Angebot im Netz unter anderem nach ­sogenannten Rückverweisen. Je mehr externe Links auf eine Seite verweisen, umso wichtiger wird sie genommen. Ähnlich schätzen Twitter oder Facebook den Wert von Debatten auf ihren Plattformen ein: Je mehr Beiträge zu einem Thema geschrieben wurden, umso häufiger werden sie anderen Nutzerinnen und Nutzern angezeigt. Weshalb der Eindruck entsteht, auf diesen Plattformen gehe es besonders unzivilisiert und laut zu.

Ob das tatsächlich so ist, können wir kaum unabhängig überprüfen, weil die Plattformen kein objektives Bild ­zeichnen wollen. Es geht ihnen vielmehr darum, die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer zu binden – und diese möglichst lange in ihrem Angebot zu halten, weil sie dann mehr Werbung ausspielen und so Geld verdienen können. Dabei machen sie sich den nach dem Evangelisten genannten Effekt zunutze: Polarisierende, konfrontative und streitbare Inhalte werden bevorzugt angezeigt, weil nicht unwichtig sein kann, worüber viele Menschen streiten.

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Dieses Prinzip bestimmt mittlerweile aber nicht nur die Dynamik auf den Plattformen, sondern auch die Bericht­erstattung über sie. Sogenannte Internetstars werden auch in klassischen Medien vorgestellt – weil sie online viele Fans haben. Videos von der Plattform Youtube ­werden ­zitiert, weil sie dort häufig abgerufen wurden. Virale Phäno­mene werden offline vorgestellt, weil sich online viele mit ihnen befasst haben.

Ob das gut oder schlecht ist, wage ich nicht zu beur­teilen. Der Blick in die Bibel verrät aber, dass dieses ­Phänomen nicht neu, digital oder gar bedrohlich ist. Es ist ein sehr altes Prinzip, das vermutlich nicht technisch gelöst werden kann, sondern nur durch die private Entscheidung eines und einer jeden Einzelnen. Sie können selbst entscheiden, ob Sie allein deshalb nachschauen, was am Marktplatz los ist, weil an dem Geschäft ein paar ­Menschen anstehen.

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Es geht bei diesen Gleichnis von Matthäus nur um den richtigen Verstand von wirklich-wahrhaftigem Glauben, also um die gottgefällige Vernunft / das zweifelsfrei-eindeutige Verantwortungsbewusstsein. Eine Verbindung zu irdischer Konfusion in Wettbewerb, Erfolg und Populismus ist hanebüchen, wenn es nicht widersinnig-intrigant ist.

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"... wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden."

Am "Jüngsten Tag/Gericht", wenn Mensch das Bewusstsein für die wirkliche Wahrhaftigkeit ("wie im Himmel all so auf Erden") nicht richtig/gottgefällig/vernünftig entwickelt hat, dann kann Mensch die "Gnade Gottes" erwarten, die den absoluten Tod / die Löschung der "Festplatten und Arbeitsspeicher" bedeutet.

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Ist der Inhalt auf den Glauben und seine Organisation, den Kirchen, übertragbar? Es würde dann also etwas manipulativ wichtig und evt. auch wertvoll gemacht, von dem die Bedeutung noch unbekannt ist. Wenn soviele anstehen muss das ja einen Grund haben und der Letzte, der das merkt, will man auch nicht sein. Und warum ist vor der Kirche -zumindest bei uns- kein Andrang? Zitat: "Polarisierende, konfrontative und streitbare Inhalte werden bevorzugt angezeigt, weil nicht unwichtig sein kann, worüber viele Menschen streiten". Genügt anzeigen? Zuschauer sein, ja, aktiv sein, nein? Fazit: "Mit Grausen wird der Streit betrachtet. Davon ein Teil zu sein wird verachtet". Also ist das mit dem Donner von der Kanzel auch kein Wohlfühlwetter.

Da fehlt Entscheidendes.
Die öffentliche Aufmerksamkeit ist eine Hure. Sie vergibt ihre Huld selten nach teurer Qualität und hoher Bedeutung, sondern nach Geschrei und Oberflächlichkeit.
Als Maßstab für Werte nur selten geeignet.

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Was verbirgt sich hinter dem Begriff Polarisierung? Mit wenigen Worten leicht begrifflich  Zusammenhänge behaupten, für  die sowohl als Zustand als auch für eine Lösung keine sinnvollere als die behauptete besteht. Eine Polarisierung kennt weder Zweifel noch Fehler oder eine andere Ansicht. Ihre Anwendung führt unweigerlich in eine Behauptungs- und Pseudowahrheitsdiktatur. Alle Naturgesetze haben zwar auch diesen Anspruch, sie sind aber beweisbar, was aber für angebliche "Glaubenswahrheiten" nicht zutrifft. Dieser Begriff (Dogmen) ist ebenfalls eine polarisierende Aussage und ein Widerspruch in sich. Denn ein Glaube ist nicht beweisbar und kann deshalb keine Wahrheit sein, sondern nur eine Vermutung. Auch der Anspruch einer Religion, dass nur durch sie ein Heil (welches auch immer!) zu erreichen ist, ist ein polarisierender Glaube. Vorsicht, wenn in einer Kirche die Polarisierung (Politik) angeprangert wird. Das eigene Glashaus ist eng

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