Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
30.04.2011
Christfest, 2. Feiertag
Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder
Jesaja 11,1-9

Der Prophet Jesaja erzählt Geschichten wider die Natur der Dinge. Wölfe werden bei den Lämmern lagern, und die Lämmer kommen ungeschoren davon. Der Löwe wird Stroh fressen wider seine eigene blutrünstige Natur. Ein Kind steckt seine Hand in das Nest der Natter, und es geschieht ihm nichts.

Die Elenden im Land werden endlich Gerechtigkeit erfahren, auch das hat es noch nie gegeben. Natürlich, gewohnt und erwartet ist, dass Löwen die Lämmer schlagen; dass Kinder umkommen, die leichtsinnig an das Nest der Natter geraten, und dass den Elenden das Recht vorenthalten wird.

So ist das Leben, wir erschrecken darüber, zwar nicht sehr, denn das sind wir gewohnt, und es ist erwartbar. Aber die Armen kommen mit der sogenannten Natur der Dinge nicht aus, und so flüchten sie in die Unsagbarkeiten: Das Kind wird nicht mehr gebissen von der Natter, und die Armen bekommen ihr Recht.

Man müsste alle betäubende Festlichkeit von Weihnachten zerschlagen

Zu Weihnachten lesen Christen den Abschnitt aus dem Jesaja-Buch und erzählen sich eine Geschichte, die wie keine andere den natürlichen Ablauf durchkreuzt: Gott wird Mensch. In unseren Predigten scheint es so leicht dahingesagt und in den Liedern leicht dahingesungen, es klingt wie ein verbrauchtes Geheimnis.

Aber welche Kühnheit des Gedankens! Nein, nicht des Gedankens! Welche Kühnheit Gottes! Man müsste alle betäubende Festlichkeit von Weihnachten zerschlagen und einen langen Tag den Vers aus dem Weihnachtslied von Nikolaus Hermann murmeln
und singen:

„Er äußert sich all seiner G’walt, / wird niedrig und gering / und nimmt an eines Knechts Gestalt, / der Schöpfer aller Ding.“

Nein, es geht nicht allgemein um die Geburtlichkeit des Lebens, über die an Weihnachten nicht selten gepredigt wird. Bei solchen Predigten muss ich nicht erschrecken, sie sind klug und nicht unbehaglich. Aber sie münzen Weihnachten zu klein. Unsere Tradition sagt: Gott verzehrt sich vor Sehnsucht nach dem Menschen.

Wir haben wohl zu wenig Kraft, vor diesem Geheimnis zu erschrecken

Er verzehrt seine glänzende Gottheit „und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding“. Kann man das glauben? Vielleicht zeigt sich unser Unglaube oder die Kargheit unseres Glaubens darin, dass wir das Geheimnis so gelassen erwähnen.

Wir Menschen haben wohl zu wenig Kraft, vor diesem Geheimnis zu erschrecken und zu verstehen, was es meint. Ich werfe es uns nicht vor, denn jeder Glaube ist zu klein für diese unendliche Geschichte. Unser eigener Glaube ist endlich, wie alles in unserem Leben endlich ist. Dass wir das unfassbare Geheimnis nicht erfassen, ist nicht das Schlimmste. Wenn wir ihm nur nicht ausweichen, nicht in allgemeine Lebensweisheiten, nicht in eine allgemeine Moral, nicht in allgemeine Sagbarkeiten.

Von Franz von Assisi wird erzählt, wie er in dem Dorf Greccio das Weihnachtsgeschehen inszenierte. Er selber liest das Evangelium und predigt dem Volk. „Oft wenn er Christus ‚Jesus nennen wollte, nannte er ihn, von übergroßer Liebe erglühend, nur ‚das Kind von Bethlehem, und wenn er Bethlehem aussprach, klang es wie von einem blökenden Lämmlein. Wenn er das ‚Kind von Bethlehem‘ oder ‚Jesus‘ nannte, dann leckte er gleichsam mit der Zunge seine Lippen, indem er mit seinem glückseligen Gaumen die Süßigkeit dieses Namens verkostete.“

So weit wird unser Glaube es nicht bringen. Das Geheimnis preisen, soweit die Zunge reicht, das genügt! Gott ist aus Sehnsucht nach dem Menschen in die Gestalt unserer Niedrigkeit geflohen. Die Schönheit des undenkbaren Gedankens verbürgt seine Wahrheit.

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