Wohl denen!, wiederholte ich immer wieder. Ich stellte mir vor, dass es sie gäbe, jene, die es schafften, den anderen Pfad zu gehen. Vielleicht nicht ganz ohne Tadel, vielleicht nicht ganz frei davon, aus Versehen ein Unrecht zu begehen, aber im Grunde? Unfehlbarkeit nicht, aber eine andere achtende und annehmende Lebensweise stellte ich mir schon vor. Selbst hatte ich sie noch nicht gefunden. Noch – weil ich zugleich immer danach strebte. Noch – weil ich den Fehler ahnte, während ich tat, was sich im Nachhinein als falsch herausstellte. Gegenüber nahen Personen, gegenüber solchen, die sich auf mich eingelassen hatten. Wie allerdings auch ich mich auf sie.
Uwe Kolbe
An den Herrn dachte ich dabei nicht, nur an ein anderes Leben. Immer wieder idealisierte ich zum Beispiel das Mönchtum. Ohne es je auszuprobieren. Im gewohnten Umfeld jedenfalls misslang es mir regelmäßig, der eigenen Vorstellung gerecht zu werden. Hoch hielt ich allemal, was das uralte Kinderspiel meinte: Vater-Mutter-Kind. Dass da alles glattginge, dachte ich, dass es da schön eingerichtet sein könnte, dachte ich.
Früh hatte ich Freunde gewonnen, in deren Familien ich erlebte, was mir jenem "Leben ohne Tadel" nahe zu sein schien. Die Elternpaare hatten jeweils mehrere Kinder. Mal zwei, mal drei, in einem Fall sogar acht. Dass sie untereinander harmonisch agierten, erlebte ich, wollte es, mag sein, auch nicht anders sehen. Dass es große Unterschiede gab zwischen den Kindern, dass sich selbstverständlich Charaktere ausprägten, dass es auch Reibungen geben musste. Und dass die von mir so bewunderte und idealisierte Lebensform auch auf Absprachen, auf Verabredungen beruhen musste. Anders waren die klare Arbeitsteilung, der unaufgeregte Rhythmus des Alltagslebens, die ansteckende Freundlichkeit im Umgang miteinander nicht zu erklären – bei jenen drei Familien, an die ich hier denke, in Sachsen, am Teutoburger Wald, in Nordfriesland.
"Ich würde offener sein, dachte ich, freier"
Und obwohl ich von bewusster Grundlegung eines solchen Miteinanders ausging, weil ich mir das Schöne nicht ohne ein sachliches Fundament vorstellen konnte, genoss ich die Wärme, die mich umgab, an der ich auch Anteil hatte, oft mit fröhlichem Überschwang. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Familien sich verändert, haben sich erweitert um die Hausstände der Kinder, um Enkel. Um Orte, um Sprachen, um Länder. Die Harmonie aber ist, soweit ich weiß, auch in der Distanz erhalten geblieben.
Ein wenig staune ich selbst, auf welches Thema mich die Anfangsverse von Psalm 119 bringen – auf glückliches Familienleben. Auf diese bestimmte, nicht gerade neue Art zu leben, deren Gelingen ich hoch schätze. Ich wäre ein Schelm, nicht einzugestehen, dass mir die lange Erfahrung eines solchen Gelingens fehlt.
Meine Eltern, hineingeboren in den NS-Staat, hatten ihre frühe moralische und seelische Verwahrlosung nie verarbeitet. Weder ihren eigenen noch den Alltag ihres Kindes wussten sie zu gestalten ohne autoritären Zwang, ohne Angst vor Fremdem, ohne Misstrauen. Früh gelang es mir, auf Abstand zu gehen. Ich würde offener sein, dachte ich, freier sein, dachte ich.
"Die Diktatur prägte mich zu lange"
Die zweite deutsche Diktatur hat die Mentalität, auf die sie aufgepfropft wurde, oberflächlich bekämpft, pädagogisch, mit Verbot und Tabu. In der breiten Bevölkerung drang sie damit nicht durch. Im Unterschied zu ihrer Vorläuferin erreichte sie die Familie nicht, die "Keimzelle des Staates". Schon deshalb nicht, weil Massenpsychologie und Machtausübung wiederum auf Misstrauen, Angst und Unterordnung beruhten. Die Diktatur prägte mich zu lange, auch in der Rebellion gegen das Autoritäre, im Spott über das Misstrauen und im tiefen Erleben von Scham. Es wäre ein langer Roman, von den Konsequenzen fürs Leben zu sprechen.
Beinahe hätte ich vergessen zu erwähnen, dass jene drei Familien auf unterschiedliche, aber selbstverständliche Weise ihr Christentum leben. Und wie sehr ich dafür, mit ihnen "gewandelt" zu sein, danke.
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