Der Gott Israels gibt sich Mose am brennenden Dornbusch zu erkennen mit dem Satz: "Ich bin, der ich bin" (2. Buch Mose 3,14). Die revidierte Lutherbibel von 2017 übersetzt: "Ich werde sein, der ich sein werde." Ein Anklang findet sich in Friedrich Nietzsches Übersetzung des antiken griechischen Dichters Pindar (der im 5. Jahrhundert vor Christus lebte): "Werde, der du bist." Meister Eckhart (um 1260 bis 1328) hat als spätmittelalterlicher Mystiker und Philosoph aus seiner spirituellen Erfahrung heraus formuliert: "Man soll Gott nicht außerhalb von einem erfassen und ansehen, sondern als mein Eigen und als das, was in einem ist." Was verbindet das Widerfahrnis von Moses mit den Erkenntnissen von Meister Eckhart, Pindar und Nietzsche? Was macht diese Gedanken so aktuell?
Unsere Welt ist in einer nie da gewesenen Weise miteinander vernetzt. So sind wir uns virtuell (vermeintlich) nah. Zurzeit werden wir zugleich Zeugen von starken Spaltungstendenzen in vielen Demokratien: Im Internet radikalisieren sich Frauenhasser, Rechts- oder Linksradikale, religiöse Fundamentalisten gegenseitig. Einige reklamieren ihre nationale oder religiöse Identität unter Missachtung der Grundrechte, andere kehren sich auf beunruhigend egomanische Weise ab von einem Frieden garantierenden "Wir".
In den vergangenen Jahren hat man in Deutschland und auch anderswo sprachlich mächtig "aufgerüstet". 2016 forderte ein Teil des damaligen AfD-Vorstands, an deutschen Landesgrenzen "notfalls" auch auf Flüchtlinge zu schießen. Der französische Staatspräsident sagte in einer Rede an die Nation zur Corona-Krise: "Wir sind im Krieg." Der britische Premierminister ernannte ein "war cabinet" (ein Kriegskabinett) für die Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union.
Entmenschlichung auf allen Seiten
Auf einem Strategietreffen der Linken zum künftigen Kurs der Partei in der Ökokrise sagte eine Teilnehmerin: "Auch wenn wir das eine Prozent der Reichen erschossen haben, ist es immer noch so, dass wir heizen wollen, wir wollen uns fortbewegen" – worauf Parteichef Bernd Riexinger, wie er meinte, scherzhaft ergänzte: "Wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein." Und in einer satirisch gemeinten Kolumne der Tageszeitung "taz" schlug die Autorin vor, Polizisten auf einer Müllhalde zu entsorgen.
Satire darf ätzen. Aber all diese Äußerungen zeigen einen Verlust an Trennschärfe zwischen dem, was noch politische Meinung, und dem, was bereits ein Verrat am Grundgedanken der Menschenwürde ist. Dehumanisierung auf allen Seiten. Der öffentliche Diskurs verroht und lässt immer weniger Raum für Differenzierung. Wer nur holzschnittartig denkt, verlernt den Umgang mit Komplexität und Ambiguität und befördert so Radikalisierung. Und wir haben aktuell schon ein ernst zu nehmendes gesellschaftliches Problem mit erstarkenden extremistischen Positionen in Politik und Gesellschaft.
Wir sind alle bedürftig
Ich bin, der ich bin, sagt die Bibel. Werde, der du bist, schreibt Pindar. Erfasse Gott nicht außerhalb deiner selbst, formuliert Meister Eckhart. Diesen Sätzen entnehme ich für die aktuellen Debatten: Wer Menschen dehumanisiert und – egal welcher Hautfarbe, welcher Religion, welchen Lebensentwurfes, welchen Geschlechts und welcher ökonomischen Potenz – das Recht auf Leben und freie Verwirklichung ihrer Persönlichkeit abspricht oder gar verwehrt, der verstößt gegen das Wirkprinzip, das wir mit dem Begriff "Gott" anzudenken vermögen, das in einem jeden von uns selbst wirksam ist. Mein Gegenüber könnte ebenso ich selbst sein und umgekehrt. Wir sind in unserer Unterschiedlichkeit alle gleichwertig in unserer Bedürftigkeit.
Wer einem anderen Menschen sein Sosein abspricht, der spricht es sich selbst ab. Wer sind wir, Gott definieren zu wollen? Wir alle sind, die wir sind, in aller gottgewollten unendlichen Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit. Und genau darin sind wir alle gleich.
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