Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
30.04.2011
Estomihi - Quinquagesimae
Die Liebe lässt sich nicht erbittern, sie erträgt alles, sie duldet alles.
1. Korinther 13,1-13

In Hamburg standen zwei Kirchen in unmittelbarer Nähe zueinander. Die eine: die Katharinenkirche, die heute noch steht. Diese Kirche war schon immer schön und reich; sie war umgeben von Patrizierhäusern. Sie sieht heute noch aus wie ein großes Schiff, dem man keinen Untergang zutraut.

Die andere Kirche, St. Anna, ein Steinwurf von Katharinen entfernt, sie ist untergegangen. Es war eine unscheinbare und kleine Kirche, eine Aschenputtelkirche, die Kirche der armen Leute. Wird in den beiden Kirchen derselbe Gott angebetet? Ist dort derselbe Gott versprochen?

Katharina kennt den Satz des Apostels Paulus aus dem Epheserbrief: Christus ist unser Friede, der den Zaun der Feindschaft zwischen uns abgebrochen hat. Sie sagt zu Anna: „Siehst du, was uns trennt, ist doch unerheblich. Es sind doch rein materielle Dinge, und Gott schaut auf das Herz und nicht auf äußeren Tand und Geld und Reichtum.“

Die eine liest in der Bibel und denkt: Könnte es sein, dass das Evangelium auch trennt?

Anna seufzt. Sie wäre gerne mit Katharina einig. Aber sie putzt bei ihr und wird schlecht bezahlt. Ihr Mann ist bei der Müllabfuhr. Er macht den Dreck von Katharina weg und verdient wenig. Katharina ist gebildet und wortgewandt.

Anna aber hatte keine Zeit und kein Geld, sich zu bilden. Anna liest die Bibel etwas langsamer. Sie fängt nicht mit der Versöhnung und mit dem Frieden an. Zuerst liest sie zu ihrem Trost, dass Gott die Armen liebt; dass er der Gott der Rechtlosen ist; der Landlosen; der Gebeutelten. „Könnte es sein“, denkt sie, „dass das Evangelium uns nicht nur vereint? Könnte es sein, dass das Evangelium auch trennt?“

Anna seufzt. Gerne würde sie dem Apostel Paulus zustimmen, der zum Frieden mahnt und ihr sagt, dass die Liebe sich nicht erbittern lässt. Aber wie soll sie nicht bitter werden und nicht das Ihre suchen, wie der Apostel vorschlägt, wenn sie kein Brot für ihre Kinder hat? Wie soll sie nicht das Ihre suchen, wenn sie ihre Miete nicht bezahlen kann? Wie soll sie nicht bitter werden, wenn sie in der Zeitung liest, dass man nun die sozialpolitischen Wucherungen  zurückschneiden müsse?

Die andere liest aus der Bibel, was ihr dient, und sie verschweigt, was ihr nicht dient

Anna runzelt die Stirn und fragt sich, ob es nicht gerade zur Freundlichkeit ihren eigenen Kindern gegenüber gehört, nicht alles zu ertragen, nicht alles zu glauben und nicht alles zu erdulden. Sie fragt sich, ob Paulus nicht auch die Empörung, die Ungeduld und den Streit als Tugenden der Liebe hätte nennen sollen.

„Keinen Sozialneid, bitte!“ sagt Katharina. „Vor Gott sind wir schließlich alle arm, und auch die Wohlhabenden haben ihre Sorgen. Und Sünder sind wir alle vor Gott, hauptsächlich Sünder, die Armen und die Reichen.

Vor Gott sind alle gleich, der Reeder und der Arbeitslose; die Putzfrau und die Fürstin von Thurn und Taxis. Es zählen die inneren Werte: Geduld, Langmut, Freundlichkeit, der rechte Glaube.“ Offensichtlich lesen Anna und Katharina die Bibel verschieden.

Katharina liest aus der Bibel, was ihr dient, und sie verschweigt, was ihr nicht dient. Die Bibel zu lesen kann also zu einem großen Unternehmen werden, das zu legitimieren, was man immer schon wollte, und man verschweigt, wer die ersten Adressaten dieses Buches sind, die Armen und die Gebeutelten, die Witwen und Waisen, die Flüchtlinge und Landlosen.

Es gibt das Buch im Buch, das Evangelium für die Armen. Wenn die Kirche die Bibel liest, ist sie nicht nur getröstet und erbaut. Sie muss es auch wagen, das Buch gegen sich selber zu lesen. Sie muss es wagen, sich in Widersprüche verwickeln zu lassen.

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