Ein selbstgebasteltes kleines Fotobuch zeigt Fotos von Mia als Kleinkind in rotem Pulli und Teenager mit rausgestreckter Zunge, einmal betitelt als "Mini-Zicke" und einmal "Maxi-Zicke". Sie wurde 20 Jahre alt
Mia als Kleinkind und Teenager. Sie wurde 20 Jahre alt
Floeian Thoß, privat
Kampf gegen die Drogensucht
"Sie wollte es allein schaffen"
Antje und Holger kämpfen darum, Pflegetochter Mia vor dem Schicksal ihrer drogensüchtigen Mutter zu bewahren. Lange sieht es gut aus. Als Kind entwickelt sie sich prächtig. Dann wird der schlimmste Alptraum wahr.
10.03.2023
14Min

Im Herbst 2020 kommt Mia zurück nach ­Hause. Mia, der es so wichtig war, unabhängig zu sein. Die mit 18 Jahren sofort ausgezogen ist. Mager, aus­gelaugt sitzt sie auf der Couch vor Antje und ­Holger und weint sich alles von der Seele. Was sie in der Notunterkunft für Obdachlose erlebt hat, die gescheiterte Beziehung – vielleicht weint sie um viel mehr, Dinge, von denen ihre Pflegeeltern nichts ahnen. Was auch immer war, Antje und Holger hoffen, dass dies wirklich der Tiefpunkt ist. Dass Mia, fast 21, sich jetzt aufrappelt. Mia ist in ihrer Nähe, bereit, sich neu zu ordnen. "In Sicherheit", sagt Holger. Hoffnung.

Gut ein Jahr später im Ewigforst Sachsenwald: Pflegemutter Antje, die Freunde Laura, Melanie und Phil stehen im Halbrund um einen eigenwillig verästelten Baum, der sich über ein Herz aus Blumen am Boden wölbt. Der Name MIA ist daneben mit Stöckchen gelegt. Die vier Menschen halten Abstand zueinander. Am weitesten entfernt ist ­Melanie, in sich zusammengezogen. Phil starrt mit leerem Kopf auf Mias Namen. "Ich hab Mia hier oft angeschrien", sagt Antje leise. "Ich hab sie im Leben oft angeschrien", sagt Laura.

Den Kreis um den Baum schließen Trauer, Schuld, Vorwurf. Wut zwängt sich dazwischen, weil so viele wussten, dass Mia Drogen nahm, und nichts sagten. "Bestimmt räumt sie jetzt da oben kräftig auf", sagt Phil. Ein leises ­Lachen geht durch die Runde. Langsam rücken sie zusammen.

High haben sie sie nie gesehen

Mias Pflegeeltern fragen sich oft, ob Mia noch leben ­würde, hätten die Leute etwas gesagt. Auch deshalb haben sie sich an chrismon gewandt. Sie wollen ihre Erfahrung teilen, aufrütteln.

Am 11. Dezember 2020 ist Mia gestorben, zu Hause im Bett, an Drogen. Für die Familie wird ein Alptraum wahr. Von den Drogen wussten viele – sie nicht, sagen Mias ­Eltern und Geschwister. High haben sie sie nie gesehen. Wie viel sie ahnten und wie sehr sie Mia glauben wollten, ist Teil der Geschichte.
Mias Familie wohnt in Marschacht, einem Dorf bei Hamburg, im hinteren Teil des Pfarrhauses, am Elbdeich. Dahinter breitet sich die Elbmarsch aus. Im Haus ist es geräumig, hell, warm und wuselig. Es duftet nach ­Brötchen, Kaffee, Tee. Freunde der jüngeren Geschwister Anna und Paul kommen und gehen. Die große Mischlingshündin Trixie begrüßt alle. Am großen Esstisch erzählen sie abwechselnd, vor allem die kleine, mütterliche Antje und Holger, stattlich, launig.

Auf einer Kommode stehen Fotos von den Kindern. Mia, quietschfidel, immer mittendrin, stupsnasig, zur Hälfte türmt sich über dem Kopf blonde Wallemähne, die andere Hälfte ist kurz rasiert. Auf den meisten Bildern zieht sie Grimassen.

Mia kommt an Heiligabend 1999 zur Welt. Ihr Start ins Leben: ein kalter Entzug. Die Mutter, Antjes Schwester, schwer drogenabhängig, verschwand, so erzählen es Antje und Holger, schnell aus der Klinik. Was sie während der Schwangerschaft konsumiert hat, wissen Schwester und Schwager nicht.
Drei Monate päppelten die Ärzte Mia in der Klinik auf, als Antje und Holger sie mitnehmen durften, war sie immer noch klein, gelblich, elend, hatte kaum Körperspannung. Die im winzigen Gesicht übergroßen Augen rührten alle. Antje, Krankenschwester von Beruf, hatte kurzerhand die Stundenzahl auf ein Minimum reduziert, auf Mutter umgesattelt. Nun stand sie oft heulend im Kinderzimmer, während Mia wie am Spieß schrie und sich nicht beruhigen ließ. Enge Kleidung, die Enge des Fußsacks waren für Mia unerträglich. Trank sie fünfzehn Milliliter, ­sagen die Eltern, sei das schon viel gewesen. Das ist so viel wie ein Schnapsglas. Zwang man ihr mehr hinein, spuckte sie es aus.

Mia am ersten und am letzten Schultag (links) - Lieblingsoutfit: Hoodie, Sweatpants, Sneakers

Mia werde sich wohl nicht normal entwickeln, sagen die Ärzte. Vielleicht bleibe sie behindert. Der Oberarzt warnt vor dem Konsum von Alkohol, Nikotin, Drogen. Bei Mia könnte die Suchtgefahr groß sein.

Und dann? Mia lernt schnell krabbeln, laufen, sprechen. Sie ist nicht aufzuhalten. Anna wird geboren und zu Mias liebster Gefährtin. Paul kommt auf die Welt. Das Familienglück scheint perfekt.

Antje und Holger tun, was ihnen möglich ist. Sie gehen mit den Kindern spazieren, singen, lesen vor, fördern jede Begabung: die Musik, das Zeichnen, den Sport. Sie besuchen die Vorsorgeuntersuchungen bei der Kinderärztin. Aber medizinisch wird Mias vorgeburtliche Drogenvergangenheit nie mehr Thema. "Es war richtig, sie nicht jede Woche zu einem anderen Arzt zu schleppen", findet Holger. "Sie war so fit, so gesund", sagt Antje. "Wir dachten: Sie ist ein Christkind, sie hat Glück gehabt."

"Frauen- und Kinderärzte fragen Schwangere meist nicht nach Alkoholkonsum"

Anruf bei Dr. Mirjam Landgraf. Sie kennt das ­schrille Schreien von Drogenbabys: "Sie sind leicht zu stören und schwer zu beruhigen." Landgraf hat in München Deutschlands erste Ambulanz samt Kompetenzzentrum für ­Risikokinder mit Toxinexposition in der Schwangerschaft gegründet (TESS).
Im Vergleich der meisten illegalen und legalen Drogen hat die schlimmsten Auswirkungen auf Ungeborene: Alko­hol. Bei Suchtpatientinnen ist der oft Teil des Problems. In Landgrafs Ambulanz sind sie spezialisiert auf Kinder mit FASD, Fetaler Alkoholspektrumstörung. Die Fachärztin zitiert Studien: Pro 100 Geburten sind ein bis zwei Kinder betroffen. Es ist die häufigste chronische Krankheit, mit der Kinder in Deutschland geboren werden.

"Das Problem ist, dass süchtige Eltern meist gut versorgt sind, die Kinder aber nicht", sagt Landgraf. "Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist derart tabuisiert, dass Frauen- und Kinderärzte und Schwangerenberatungen meist nicht danach fragen. In Suchtkliniken und Substitutionsstellen wird meist nicht nach Kindern gefragt." Die wenigsten Suchtmediziner und Erwachsenenpsychiaterinnen wüssten um die Bandbreite von FASD. Auch die körperlichen Merkmale seien nicht immer erkennbar ausgeprägt. Ob Mia betroffen war, hat nie jemand überprüft, obwohl sie ein zappeliges Schulkind war.

Und eine Pippi Langstrumpf. Alle kennen Mia. Es gibt viele Geschichten über ihr großes Herz. In ihrem Nachruf erzählt eine Lehrerin, wie die Teenagerin Mia beim Schulausflug verloren ging. Die Lehrerin fand sie auf dem ­Gehsteig sitzend im Gespräch mit einem Obdachlosen. Mia: "Der Mann musste aufgemuntert werden."

Mia kümmert sich auch um Melanie, die schüchterne Außenseiterin in der Schule, nimmt sie mit. Die ist dankbar. "Mia hat mir Selbstvertrauen gegeben", sagt Melanie.

Das Problem, sagt Holger, war Mias Freiheitsdrang. Um dem beizukommen, hätte man sie festbinden müssen. – Ähnlich beschreiben es viele Erwachsene, die mit Mia zu tun hatten. Holger bewundert den Freigeist auch: "Das hat etwas Künstlerisches. Davon hat die Welt zu wenig." Die kleine Mia ignorierte Regeln fröhlich und charmant, kletterte auf Bäume und auf alles andere – egal, was Erwachsene verboten. Die große Mia kletterte abends aus dem Haus. Verbrachte viele Nachmittage an der Bushaltestelle, überlegte, wo an ­diesem Tag ein Abenteuer warten könnte. Stundenlang.

Mia mit 15 in der lokalen Kifferhöhle

Jetzt stehen ihre Freunde auf dem Parkplatz bei Budni, dem Dorfsupermarkt. Paddel hat sich zu ihnen gesellt, Mias Kumpel für durchgequatschte Nächte. Hinten an der Böschung bei der Lieferzone war ihr Treffpunkt. "Hier hat immer alles angefangen", sagt Laura. Ihre und Mias Klingelstreiche, die Radrallyes mit fünf Leuten pro Rad. Die Trink­abende. Mias erster Freund. Die Probleme.
Mia, sagt Laura, war unter den Ersten, die mit dem ­Alkohol und dem Rauchen angefangen haben. "Ich hab ihr gesagt, dass das Quatsch ist", sagt Laura. "Sie wollte immer mit der Clique sein, nicht dagegen. Aber ich war ja auch dabei." Laura bezeichnet sich und Melanie als reine Seelen, weil sie nie etwas ausprobiert haben – außer Alkohol.

Holger und Antje sprachen mit der Tochter über ihre Vorgeschichte. Mia, sagen die Pflegeeltern, wusste um die Mutter, auch wenn sie nie Kontakt zu ihr suchte, sie wusste um die Gefahr. Aber wie Grenzen achten – während die Dorfjugend mit Alkohol und Drogen eben diese testet?

Als Freunde der Schwester eines Nachts berichten, Mia, gerade 15, halte sich in der lokalen Kifferhöhle auf, informiert sie die Eltern. Holger braust hin, fischt sie aus den Rauchschwaden, fährt zur Polizeistation zum großen Drogentest. Der ist negativ. "Vielleicht weiß sie doch, was sie tut", denkt Holger.
Schon in der Zeit beginnt Mias Doppelleben. "Sie hatte Angst, dass die Eltern mitbekommen, was sie macht", sagt Laura. Sie und Paddel sind Mia-Taxi, sammeln sie nach Partys auf. "Es war unglaublich", sagt Paddel. "Auf dem Deich hast du’s noch gemerkt – im Haus überhaupt nicht mehr." – Er schüttelt den Kopf. Denkt, er hätte sich anders verhalten, hätte er ihre Vorgeschichte gekannt. So aber deckt er sie: "Wer musste noch nicht in so einem Zustand an den Eltern vorbei?"

Mia wird lustlos, reizbar, unkonzentriert. Die Noten schlechter. Immer häufiger holen Antje und Holger bei ihren Freunden Rat. "Am Anfang haben wir noch geschmunzelt: Pubertät ist ein Arschloch", erzählt Holgers Freund Jost am Telefon. "Was gibt’s Neues an der Mia-Front?" wird zu seiner Standardfrage. Mit ihren Freundinnen grübelt Antje, ob das noch Pubertät ist oder schon Alarmzeichen. "Sie spürte, etwas läuft aus dem Ruder", sagt Freundin Myriam. "Aber es fehlte ein Puzzleteil."

Mias Familie: Ihre Pflegeeltern Antje und Holger mit Paul und Anna

Den Hauptschulabschluss schafft Mia ­gerade so, die Hauswirtschaftsschule nicht. Sie hat Jobangebote vom Bäcker, vom Bauern, ­sogar vom Tierpark – schlägt alles aus. Andererseits: Mia wird von der Verkehrswacht ­Niedersachsen für ihre außerordentliche Verlässlichkeit als Schülerlotsin ausgezeichnet, sie betreut die Kleinen am Jugendzentrum und ist Mannschaftsführerin bei den Pfadfindern.

"Wenn ihr etwas wichtig war, konnte sie Verantwortung übernehmen", sagt Antje. Laura sagt: "Ausdauer hatte sie nur für andere, nicht für sich. Sie brauchte immer einen Babysitter."

Ob Mia wirklich unter Spätfolgen litt, darüber kann Mirjam Landgraf aus der Ferne nichts sagen. Aber ihre Ambulanz begleitet auch Jugendliche mit FASD in der ­Pubertät. "Das Leben ist für Betroffene sehr anstrengend", sagt Landgraf. "Sie merken, dass irgendetwas nicht rund läuft. Über die Diagnose sind viele erleichtert." Oft sei die kognitive Leistungsfähigkeit eingeschränkt: die Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, die Fähigkeit zu planen und ­Ur­sache und Wirkung zu erkennen.

Einmal sagte Mia, sie hätte gerne studiert

Zum Suchtrisiko sagt Landgraf, dass Kinder, die wie Mia in stabilen Verhältnissen aufwachsen, eine bessere Prognose haben.
Die Gegend um Marschacht ist sozial gut durchmischt. Es gibt nicht mehr Drogendelikte als anderswo. Mias Peergroup ist die Dorfjugend, die sich zu Saufabenden bei Budni trifft. Und: "Wir kennen viele, die dealen", sagt Anna, die Schwester. "Das ist in der Gegend ganz schlimm." Einige von Mias Freunden haben Menschen mit Sucht­problemen im Familienumfeld. Phil hatte selbst Ärger wegen Drogenkonsums.

Die Spannungen in der Familie nehmen zu. Gegenüber Anna und Paul, die verlässlich sagen, wo sie hingehen und zur vereinbarten Zeit zu Hause sind, fühlt Mia sich ­ungerecht behandelt, gegängelt. Mias Kritik an den Eltern belastet das Verhältnis der Schwestern.

Wie es in ihrem Inneren aussah, verbarg Mia vor den meisten bis zum Schluss. Am ehesten teilte sie es mit ­Laura. Auch die musste sie auffordern: "Du darfst ­zugeben, ­ wenn es dir nicht gut geht."

Paddel erinnert sich an einen Abend rund um Mias Hauptschulabschluss. Sie saßen im Zimmer, stießen an. Da wurde Mia plötzlich schwermütig. Was soll nur aus ihr werden? Eigentlich hätte sie ja einen höheren Abschluss schaffen und studieren wollen. Paddel ist baff. Scherzt sie? Nie wieder hört er so etwas von ihr.

"Der Plan ist, die Kinder aus dem Haus zu kriegen", sagt Holger. "Sie sollen sich versorgen können. Aber tun sollen sie, was ihnen liegt." Für Weihnachten 2020 hatte er ein Mischpult besorgt, weil Mia zuletzt das Musikmixen für sich entdeckt hatte. "Vielleicht wäre das was gewesen?" – er sagt es heiser, mit rotem Gesicht.

Mit 18 zieht Mia aus, nach Hamburg zu ihrem neuen Freund. Sie entdeckt die Goa-Szene. Eine Musikbewegung, die für Love and Peace steht, in der aber auch viele unter Drogen tagelang feiern. Ihren Facebook-Feed gestaltet sie mit einem psychedelischen Bild in schillernden Farben und haushohen Pilzen. Der Account ist ein Fenster in die Welt, die Mias Familie und alte Freunde nicht kennen. Sie hält ihn vor ihnen geheim. Die Timeline füllt sich mit Fotos von Partys, von neuen Freunden, "Patienten" nennt sie sie, von ihren wundgetanzten Füßen. "Die Musik ist meine Religion", postet sie.

Die Bushaltestelle: Mias Stammplatz. Phil und Melanie, Laura und Paddel waren Mias Freunde

Mias Männergeschichten machten ihre ­Familie und Freunde ratlos bis fassungslos. Holger findet trotzdem gute Worte: Dass das im Grunde Jungs waren, die einfach mal falsch abgebogen sind.

Mias neuer Freund: zwölf Jahre älter, Bauarbeiter, ­Alkoholiker. "Wenigstens hat er gearbeitet, drauf bestanden, dass eine Ausbildung wichtig ist", sagt Laura. Zumindest hatte er Umgangsformen, fand die Familie. Dann kam T.

Weil er seine Wohnung verloren hatte, nahm die Familie Mia und ihn auf, auch in der Hoffnung, bessere Kontrolle zu haben. T. brachte den Geruch von Alkohol und Zigaretten ins Haus. Stritt aggressiv mit Mia, vergiftete die Atmo­sphäre. Die Eltern ziehen die Reißleine: Er muss raus. Mia geht mit, auf einen Campingplatz und ein paar Monate später in die Notunterkunft. Kaum jemand der früheren Freunde kommt noch an sie ran. Laura besucht sie am Camper. Doch meist ist T. dabei. "Er war eifersüchtig", sagt Laura. "Ein Gespräch mit Mia war kaum möglich."

Als Mia sich im Herbst 2020 trennt und zu den Eltern zurückkommt, atmen alle auf. Die, die nichts von den ­Drogen wissen, die, die ein bisschen wissen, die, die vieles wissen.

Am Tisch sitzen Familie und Freunde und vergleichen, was sie am Ende über Mia wussten: Anna gegenüber gibt sie zu, dass sie mal einen Joint probiert habe. Es sei eklig gewesen. "Das glaube ich ihr", sagt Holger. "Sie mochte Rauchen nicht."

Mit Paddel rauchte Mia nächtelang Zigaretten. Laura verpfiff Mia einmal bei den Eltern. Mia distanzierte sich für Monate. Danach versuchte Laura es selbst. Kam Mia mit einem Joint, sagte Laura: "Sind wir jetzt ­wieder an dem Punkt?" Mia konsumiert vor Lauras ­Augen nichts mehr. Die Polizei kontrollierte Paddel und Mia eines Nachts bei der Heimfahrt. Die fünf Gramm Gras in Mias Tasche finden sie nicht. Mia amüsiert sich köstlich. Paddel, durch Drogenschicksale im Freundeskreis sensibilisiert, wird stinksauer. Beide gehen auf Abstand.

Melanie wusste, was Mia bis Sommer 2020 trieb, und sagte ihr deutlich: "Hör auf damit." Dann erzählt Mia ihr, dass sie zur Suchtberatung gehen wolle. Und sie schien wirklich nichts mehr zu konsumieren.

Immer wieder erzählen Jugendliche Paul und Anna: Mia konsumiert, Mia dealt.
Paul weiß davon nichts. Anna, außer sich, unter Tränen, konfrontiert Mia mit dem, was sie erfahren hat. Die weist die Vorwürfe so vehement von sich, dass Anna ihr schließlich glaubt.

Mit Phil war Mia offen

Die Eltern finden Pillen in Mias Sachen, glauben ihr nicht, dass es Schmerztabletten einer Freundin sind. Aber sie haben Angst, Mia zu bedrängen. Wollen ihrer Tochter vertrauen. Haben kaum Spielraum, weil sie 18 ist. Sagen sich gegenseitig, wie hilflos sie sind.

Mit Phil war Mia offen, vielleicht, weil er auch kon­sumierte. "Sie sagte immer, sie hört auf: ‚Brauchst dir ­keinen Kopf zu machen.‘" Phil schluckt. Er war besorgt, als Mia in Hamburg rapide abnahm. Sie sagte ihm: "Wenn ich so weitermache, gibt’s mich nicht mehr lang." Und Phil: "Dann hör doch auf. Du musst auf dich aufpassen."

Vor den anderen explodiert Anna: "Warum habt ihr nichts gesagt?"
Das bringt alle aus der Fassung.

In der Beratungsstelle des Herbergsvereins in Winsen (Luhe), der nächstgrößeren Stadt, sitzt die Geschäftsführerin Andrea Picker im Aufenthaltsraum. Der Verein unterstützt Wohnungslose und Suchtkranke unter anderem mit offenen Sprechstunden. Mia war ein paarmal hier und hat nach einer Entgiftung gefragt. Das erfahren Mias Eltern erst nach ihrem Tod. Zu den Beschreibungen der Familie nickt Andrea Picker. "Abhängige bringen manchmal viel Kraft auf, um ihre Sucht vor Angehörigen zu verbergen." Sie weiß, dass es für Außenstehende ein großer Schritt ist, Eltern auf den Drogenkonsum ihrer Kinder anzusprechen. Und dass es für Eltern und Freunde ein harter Kampf ist. Weil besorgte Eltern viel Druck haben, weil Freundschaft ein ­Geben und Nehmen ist. Und weil es schwierig ist, die Balance ­zwischen Hilfe und Strenge zu finden. Sie rät Ange­hörigen: professionelle Anlaufstellen empfehlen, nicht lockerlassen, auch wenn man zurückgewiesen wird. Das System der Sucht nicht unterstützen: kein Geld, keinen Schlafplatz geben. Und akzeptieren, dass die Süchtige selbst entscheidet, von wem sie schließlich Hilfe annimmt und wie viel.

Was hat Mia vor ihrem Tod wachgehalten?

Was trieb Mia um? Was fühlte sie in den letzten ­Monaten? Auf Facebook ist ihr letzter Status: "Mach kaputt, was dich kaputt macht. Knapp verpeilt ist auch ­verballert. Auch Liebe ist vergänglich."

Unter ihre Partybeiträge mischen sich wütende. "Hört auf zu tratschen und meinen Eltern zu petzen, sagt es mir ins Gesicht. #Drogen #Drogennehmen", schreibt sie im September.

Später folgen nachdenkliche: "Soll ich bleiben, soll ich schmeißen? – Tanz drüber nach."

Im November 2020 teilt sie zwei Fotos, auf denen sie müde und zerschunden aussieht, durch Filter zusätzlich verstärkt. "Du siehst nicht gut aus", schreibt jemand mitfühlend. Mia: "Mir geht’s aber gut."

Am 10. Dezember teilt sie ein in psychedelischen ­Farben bearbeitetes GIF von sich. In dem Filmschnipsel lässt sie sich rückwärts einen Hang hinunterkugeln, ohne ihre Bierdose loszulassen: "Der Moment, wenn alles stimmt."

Am 11. Dezember nachts: den Horrorclown Joker, wie er eine Treppe hinuntertanzt – "Tanz drüber nach".

Am 11. Dezember um 5 Uhr morgens: Joker, wie er seine Fratze abwechselnd zu Schmollen und Lächeln verzieht – "Immer noch wach".

Was hat sie vor ihrem Tod mehrere Tage und Nächte wachgehalten? Das fragen sich alle. Holger, der ein paar Nächte vorher Licht unter Mias Tür gesehen und sich ge­ärgert hatte. Was hätte er entdeckt, hätte er die Tür ­geöffnet? Mia – endlich – im Rausch? Es ist das einzige Mal, dass ihm Tränen in die Augen treten.

An Mias letztem Morgen fuhren Anna und die Eltern nach Cuxhaven. Mia chattete mit Melanie. Gegen Mittag schaute Laura vorbei, um Geld für ein Geschenk abzuholen. Musik lief. Mia, ganz wie immer, saß auf dem Bett und kratzte den Betrag in Münzen zusammen. Mittags erkundigte sie sich im Familienchat nach Anna und den Eltern. Am Nachmittag kam Paul aus der Schule, schaute in Mias Zimmer. Sie hatte Besuch, lag im Bett. Schlief. Oder war schon tot.

Der Mann, der bei Mia war, ist der Polizei bekannt. Zumindest, sagt Antje bitter, hat er Hilfe gerufen und versucht, Mia zu reanimieren. Weil die Todesumstände unklar waren, übernahm die Kripo.

In den folgenden Tagen und Wochen kommen ­Scharen trauernder Menschen an den Gartenzaun der Familie. Bekannte und Nachbarn erzählen plötzlich. Verwandte zeigen ihnen Mias Facebook-Profil, und die Familie sieht zum ers­ten Mal die verstörenden Videos von Absturz­partys. Beim Aufräumen finden sie Drogen. Mias Doppel­leben entrollt sich. Alles das, wovor sie sie nicht bewahren konnten.

Wer zurückbleibt, muss Mias Geschichte für sich zu ­Ende erzählen.
"Mia wollte es allein schaffen", sagt Antje oft. Phil will nie wieder Drogen nehmen. Und nie wieder schweigen. "Ich hatte Angst, ihre Freundschaft zu verlieren", sagt er. "Jetzt habe ich sie ganz verloren."
Laura spaziert mit ihrer Hündin fast jeden Tag zum Grab.
Die Eltern haben zusammen mit Freunden den Verein "Mia-Mariechen" gegründet. Sie und Anna besuchen Schulen und Elterntreffs, erzählen von Mia, betonen: "Wenn jeder nur das gesagt hätte, was er weiß, hätte es schon geholfen."

Der Verein, den die Eltern gegründet haben, betreibt Prävention:  www.mia-mariechen.de

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Sehr geehrtes Redaktionsteam,
bei der Erzählung Mias tragischer Geschichte geht es ja neben der berührenden Darstellung der trauernden Familie vor allem um Aufklärung, damit solche Schicksale möglichst vermieden werden können. Vor diesem Hintergrund beschäftigen mich die Angaben im Text: Es wird viel von Drogen und "konsumieren" gesprochen, welche Mia ins Grab gebracht haben. Wörtlich benannt wird immer wieder nur Gras. Das ärgert mich, da Cannabis keine Droge ist, die Menschen tötet. Sie kann Teil eines unverantwortlichen Umgangs mit weiteren Drogen sein und sie bringt ihre eigenen Probleme mit sich, natürlich. Aber mit Sicherheit ist Mia nicht am Konsum von Gras gestorben. Diese Klarheit und Hinweise darauf, um welche Drogen es denn tatsächlich ging, fehlen mir im Text. Denn solange alle illegalen Drogen in einen Topf geworfen werden und Kinder gleichzeitig ihre Eltern fröhlich Alkohol konsumieren sehen (was ja auch im Text als Droge mit den real gefährlichsten Auswirkungen in der Schwangerschaft benannt wird), sprechen diese Kinder mit ihren Eltern auch nicht offen über ihren eigenen Konsum. So werden wir das Problem nicht lösen, um das es im Text geht: Dass miteinander gesprochen wird, sodass Räume zur Intervention und Unterstützung entstehen. Und verhindert werden kann, dass Menschen an Drogen zugrunde gehen.
Mit freundlichen Grüßen
Inkeri Lüchem

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Sehr geehrte Damen und Herren,

ich erhalte die Ausgaben von chrismon zusammen mit meiner Rheinischen Post Düsseldorf.

Ich lese sie immer mit Interesse, aber die o.a. Ausgabe fand ich insgesamt besonders gelungen und gut geschrieben. Hier sind mir die Artikel "Mia's kurzes Leben" und "Ich will doch nur zur Ruhe kommen" besonders aufgefallen, was die anderen Berichte jedoch nicht schmälern soll.

Vielen Dank für Ihre Arbeit an diesem interessanten an Magazin

Dorothea Märker

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Sehr geehrtes Redaktionsteam,
bei der Erzählung Mias tragischer Geschichte geht es ja neben der berührenden Darstellung der trauernden Familie vor allem um Aufklärung, damit solche Schicksale möglichst vermieden werden können. Vor diesem Hintergrund beschäftigen mich die Angaben im Text: Es wird viel von Drogen und "konsumieren" gesprochen, welche Mia ins Grab gebracht haben. Wörtlich benannt wird immer wieder nur Gras. Das ärgert mich, da Cannabis keine Droge ist, die Menschen tötet. Sie kann Teil eines unverantwortlichen Umgangs mit weiteren Drogen sein und sie bringt ihre eigenen Probleme mit sich, natürlich. Aber mit Sicherheit ist Mia nicht am Konsum von Gras gestorben. Diese Klarheit und Hinweise darauf, um welche Drogen es denn tatsächlich ging, fehlen mir im Text. Denn solange alle illegalen Drogen in einen Topf geworfen werden und Kinder gleichzeitig ihre Eltern fröhlich Alkohol konsumieren sehen (was ja auch im Text als Droge mit den real gefährlichsten Auswirkungen in der Schwangerschaft benannt wird), sprechen diese Kinder mit ihren Eltern auch nicht offen über ihren eigenen Konsum. So werden wir das Problem nicht lösen, um das es im Text geht: Dass miteinander gesprochen wird, sodass Räume zur Intervention und Unterstützung entstehen. Und verhindert werden kann, dass Menschen an Drogen zugrunde gehen.
Mit freundlichen Grüßen
Inkeri Lüchem

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