Menschen aus der Notunterkunft der Kältehilfe in Berlin-Wannsee
Brigitte lebt seit 20 Jahren auf der Straße. Gesund bleibt man da nicht
Joschka Moser
Kältehilfe Berlin
Ein warmes Bett und eine Dusche
Morgens um sechs gibt es ein Frühstück, dann müssen alle wieder raus in die Kälte. Sechs Gäste erzählen vom Leben auf der Straße und der kurzen Pause davon – in der Notunterkunft der Kältehilfe in Berlin-Wannsee
Robert Lehmann
26.01.2023
13Min

Brigitte, 71 Jahre

Wer Brigitte zuhören möchte, muss Geduld ­haben. Ihre Gedanken verlieren sich, ihre ­Sätze ver­irren sich. Bedroht fühlt sie sich, spricht von ­Menschen, die ihr Schlimmes angetan haben, die ihr ­Schlimmes antun wollen. Ihre Stimme bekommt dann so­ ­eine Schärfe, fast wie ein Zischen. Misstrauisch schaut sie hin und her. Bleibt an den Gesichtern der anderen Gäste in der Notübernachtung hängen. Sondiert, vor wem sie sich glaubt in Acht nehmen zu müssen. Im nächsten Moment wird ihr Gesicht weich, ihr Ton zärtlich. Wenn sie von ihrer Tochter spricht zum Beispiel, die sie so gerne großgezogen hat, die ein so liebes Mädchen gewesen sein soll. Aus den Augen verloren haben sie sich, seit Jahren nicht mehr gesehen. "Sie lebt ihr eigenes Leben, und das ist gut so", sagt Brigitte.

Brigitte ist 71, seit 21 Jahren ist sie auf der Straße. Es sind Jahre, die ihren Geist veränderten, die sich als ­Falten in ihr Gesicht gruben, ein paar ihrer Zähne ausfielen ­ließen. Dann sind da noch die Wunden an den Beinen, die einfach nicht heilen wollen. "Ich laufe wie eine Ente", sagt sie und lacht.
Obdachlosigkeit macht krank. Wobei wohnungslose Frauen es noch einmal schwerer haben, da sie häufiger Opfer von Gewalt, Missbrauch und Übergriffen werden. In dieser Notübernachtung gibt es vier Frauen von insgesamt 30 Gästen. Ein Fünftel bis ein Viertel aller Obdachlosen in Deutschland ist weiblich, schätzen Sozialverbände.

Fast wie ein Zuhause: Brigitte hat ihre eigenen Hausschuhe am Bett stehen

Plötzlich gibt es einen Tumult im Essenssaal. Ein Mann und eine Frau schreien sich an, umkreisen einander, keiner scheint den anderen in Ruhe lassen zu können, beide wirken betrunken. Worum es geht, versteht man nicht, sie sprechen polnisch. Plötzlich packt er sie am Hals und gibt ihr eine Ohrfeige. Leicht nur, aber dennoch. Jetzt gehen andere dazwischen, auch die ehrenamtlichen Helfer, und trennen die beiden. Bei Gewalt gibt es Hausverbot, ohne Diskussion. Der Mann muss die Notunterkunft verlassen. "Der Mensch muss Mensch bleiben. Doch wie soll das gehen? Jeder hat die Schnauze voll, wenn man kein Zu­hause hat", sagt Brigitte.

"Der Mensch muss Mensch bleiben" Brigitte

Irgendwo zwischen Chemnitz und Leipzig ist Brigitte aufgewachsen. Einen Vater hat sie nie kennengelernt. Ein Adliger soll er gewesen sein, weswegen sie ja eigentlich Prinzessin ist, ein Erbe stehe ihr auch noch zu. An dieser Vorstellung hält sie sich fest, sie gibt ihr Kraft, wenn der Winter kalt ist, wenn die Beine schmerzen. Montiererin hat sie gelernt, in der Fabrik hat sie winzige Teile für S-­Bahnen und Schiffe angefertigt. In Berlin dann im Palast der ­Republik am Einlass gearbeitet. Ein Mann, eine Tochter, eine Wohnung. Irgendwann zerbrach all das. Irgendwann konnte sich Brigitte ihre Wohnung nicht mehr leisten.

Brigitte lässt sich von Jerome, einem anderen Gast, ­einen Tee bringen. Die beiden kennen sich seit zwei ­Jahren. Brigitte scheint ihn adoptiert zu haben, als sie ihn eines Nachts fand, völlig verfroren, und ihre Decke mit ihm teilte. Seitdem passen sie aufeinander auf. Nicht als Pärchen, sondern als Partner.

"Man darf sich seinem Schicksal nicht ergeben", sagt Thomas. Gepäck kann tagsüber in der Unterkunft bleiben. Viele Gäste haben aber Angst, beklaut zu werden

Thomas, 74 Jahre

Der Mann mit den weißen Haaren, den blauen ­Augen und den vielen Fältchen in den Augenwinkeln hat etwas Unbeschwertes, etwas Freches, als ob sein Leben ein Abenteuer sei, das es zu bestehen gilt. ­Thomas heißt er, 74 Jahre ist er alt. Langsam und vorsichtig kommt er an diesem grauen, kalten, nassen Sonntagabend in die Notübernachtung der Kältehilfe gelaufen. "Mensch, Thomas. Da bist du ja wieder. Wie geht es deinen Füßen? Wollten sie dich im Krankenhaus nicht mehr haben", fragt einer der freiwilligen Helfer am Eingang.

Thomas reicht erst einmal allen die Hand, mit einem festen, kurzen Druck. Dann grinst er. "Habe mich selber entlassen. Halte es im Krankenhaus nie lange aus. Außerdem geht es meinen Beinen wieder gut." Thomas hat eine tiefe Stimme, der man gerne zuhört. Doch seine Beine sind dick und sehen unter den weißen Socken angeschwollen aus. "Bist du dir sicher?", fragt der Helfer. "Ja, bin ich", versichert Thomas. Der Helfer zuckt mit den Schultern. "Hast du Alkohol, Drogen oder Waffen dabei?" "Jede Menge", sagt der alte Mann. Beide müssen lachen. Thomas darf passieren.

"Solange ich laufen kann, mach ich so weiter" Thomas

Auf der Straße würde er nicht weiter auffallen. Eine dunkle, ordentliche Jacke hat er an, darunter ein Hemd. Nur der schwere Trolley, den er hinter sich herzieht, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er mehr mit sich herumschleppt als den normalen Einkauf. In der Not­übernachtung haben sie feste Betten, so können die Gäste ihre Sache auch im Raum lassen. Viele haben aber Angst, beklaut zu werden, und nehmen das Wichtigste mit.

"Man muss flexibel sein und darf sich seinem Schicksal nicht ergeben, dann klappt fast alles", sagt Thomas. Er habe zum Beispiel einen Bibliotheksausweis. Da ­könne er sich tagsüber in den Lesesaal setzen, in einem Buch ­blättern, sich aufwärmen, aufs Klo gehen. Oder er fährt mit dem Regionalzug nach Polen rüber, mit seinem Schwer­behindertenausweis sogar kostenlos, trinkt dort einen ­Kaffee, gönnt sich ein günstiges Mittagessen, unterhält sich mit den Leuten.

Eine Essensspende der Tafel (links). Alkohol, Waffen und Drogen sind tabu. Wer seinen Alkohol freiwillig abgibt, bekommt die Flasche am nächsten Morgen ­wieder.

Polnisch kann er. Seine Eltern ließen ihn 1948 bei den Großeltern zurück, die im damaligen Oberschlesien wohnten. Fünf Jahre hatte Thomas eine gute Kindheit, dann starben seine Großeltern und er sollte in ein Heim. Wollte er aber nicht und schloss sich einer Bande von rund 300 Kindern an, die in der Stadt Katowice hausten. Sie klauten Obst und Gemüse auf dem Markt, die Großen lenkten ab, die Kleinen griffen zu. Sie bauten sich ­Höhlen im Wald. Sie überlebten. Fünf Jahre war Thomas ein Straßen­kind, bis das Rote Kreuz ihn fand und zu seinen Eltern nach Stade brachte. Er lernte Schlachter, er lernte Schlosser, verliebte sich, bekam Kinder, trennte sich. Irgend­wann zog es ihn nach Berlin. Es lief nicht immer alles rund. Aber es lief.

2013 verlor Thomas sein günstiges Apartment in einem ehemaligen Schwesternheim eines Krankenhauses. "Die Miete war sehr günstig. Eine andere Wohnung kann ich mir mit meiner Rente von 700 Euro nicht leisten", sagt er jetzt leise, als ob es ein Geheimnis sei, dass er überhaupt so viel Geld hat. In ein Altenheim, wo er seine Selbstbestimmung abgeben müsste, will er aber nicht. "Ich will frei bleiben", sagt er. Stattdessen schlägt er sich durch. Im Winter in der Notübernachtung. Ab dem Frühling ist er wieder unterwegs, schläft im Zug, findet mal hier, mal da einen Schlafplatz, fährt nach Polen, nach Belgien oder Frankreich. Thomas on Tour. "Solange ich laufen kann, mache ich so weiter", sagt Thomas.

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Jean-Claude, 64 Jahre

Jean-Claude friert, seine Muskeln tun weh, seine Knochen auch. Wenn er lacht, rasselt es in der Lunge. In den letzten Tagen ist die Heizung in der Notunterkunft ausgefallen. Da wird er sich was zugezogen haben. Nicht einmal ­seine Suppe bekommt er runter. Kurz will er aber hier noch sitzen, seine Hände an der warmen Teetasse auf­wärmen, bevor er ins Bett geht.

Jean-Claude spricht Deutsch mit starkem französischen Akzent. Nur mühsam kommen die Worte aus seinem Mund. Doch er will von sich erzählen. Das tut gut. "Ich bin Chefkoch", sagt er. Stolz blitzt jetzt in seinen Worten auf. "Jung war ich, gerade erwachsen, da fing ich mit dem Salat an. Später durfte ich an die Bratkartoffeln. Ein Jahr später leitete ich die Küche."

16 Jahre blieb er in Paris, in dem kleinen Restaurant nahe dem Louvre. Als es geschlossen wurde, wechselte er nach Belgien, nach Berlin. Jean-Claude kochte überall dort, wo man ihn brauchte. Auf Baustellen, in einem Schloss, in einem Restaurant auf der Friedrichstraße, im Schwarzwald. Er erinnert sich an jede einzelne Station. Zählt sie an seinen Fingern auf.

Ein Arbeitsnomade war er, einer, der von Job zu Job lebte. Bis er vor zwei Jahren durch einen Betrug seines Unter­mie­ters seine Wohnung verlor. Irgendwie hat er auch seine Kraft verloren, einfach weiterzuziehen und woanders neu zu starten. Ein Jahr lebte er in einem Hostel und nun in der Notunterkunft. Gerne würde er wieder arbeiten. Gerne würde er wieder einmal ein Buch lesen. "Als Kind habe ich Bücher geliebt, immer unter der Bettdecke gelesen, bis meine Mutter mich erwischt hat." Doch gerade fehlt ihm die Kraft dazu.

Jerome war Zeitungs­austräger, Gerüstbauer, Koch, Kabelleger. Und Rapper.


Jerome, 51 Jahre

Wenn Jerome morgens aufwacht, dankt er Gott für den neuen Tag und dass er es warm ­hatte – hier unter seiner Decke auf der dünnen Matratze im Metallgitterbett. Das kleine Zimmer teilt er sich mit drei anderen Männern. Dann zieht Jerome sich an, immer schick, immer stylish. Ein diamanten glitzerndes Nasenpiercing ziert sein rechtes Nasenloch, auch an seinen Ohrläppchen funkelt es.

Schnell das Bett machen, ordentlich und akkurat. Dann den Oberlippenbart trimmen, ganz schmal darf der nur sein, so viel Zeit muss sein. Noch frühstücken und schon zieht er los. Flaschen sammeln. Den ganzen Tag ist er in der ganzen Stadt unterwegs. "Wenn ich am Abend mehr Geld zusammenhabe, als ich am Morgen hatte, war es ein guter Tag", sagt er. Ein nicht so guter Tag ist es, wenn er beschimpft wird, als Bananenfresser, der in sein Land zurückgehen soll. "Ich versuche, das an mir abprallen zu lassen. Aber es klappt nicht immer. Dann wehre ich mich", sagt Jerome. Manchmal besucht er Freunde, manchmal trifft er seine Töchter, die bei der Mutter leben. Ob sie wissen, dass Jerome keine Wohnung mehr hat? Jerome schweigt.

"Ich habe getötet. Das lässt mich nicht los" Jerome

Jerome stammt aus den USA. Seine Mutter hat ihn und seine Geschwister alleine großgezogen. Er rappte ­gerne. Er machte gerne Sport. In der Schule war er gut. Bis eines ­Tages ein Rekrutierungsoffizier der Armee in ­seiner ­Klasse stand. Wenn er sich für fünf Jahre verpflichte, könne er ­danach auf Kosten der Armee studieren. "Mama. Das mache ich. Wir haben doch kein Geld", sagte er zu ihr. Ein paar Monate später war der 18-jährige Jerome im Irak­krieg. "Ich habe schreckliche Dinge gesehen. Ich habe getötet. Das lässt mich bis heute nicht los." Ob er seine Entscheidung bereue? "Scheiße, ja. Auf der anderen Seite wäre ich dann nicht hier, meine Kinder wären nicht geboren."

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Vom Irak ging es auf einen der US-Armee-Stützpunkte in Deutschland. Jerome verliebte sich in eine deutsche Frau, wurde Vater, quittierte den Dienst und blieb. "Ich war Zeitungs­austräger, Gerüstbauer, Koch, Kabelleger, ich ­habe eine Ausbildung als Gärtner gemacht und habe ­einen Gabel­staplerführerschein." Und er war Rapper. Spike hieß seine Band. Sie hatten sogar ein paar richtige Hits in Europa, auf Youtube findet man noch Musikvideos. Doch irgendwie brach das auseinander. Irgendwie scheint in Jeromes Leben öfter mal was auseinanderzubrechen. Er berichtet, wie er hier und da wütend werden kann, wie er auf seinem Recht beharrt.

In der Notunterkunft gibt es auch eine Kleiderkammer - und Hygieneartikel auf Anfrage.

Jerome meldete dem Jobcenter, dass er bald eine Arbeit antreten würde. Doch aus irgendeinem Grund wurden die Mietzahlungen an den Vermieter sofort eingestellt. Nach drei Monaten hatte Jerome die Kündigung im Briefkasten. Plötzlich war er auf der Straße. Zwei Jahre ist das her. Erst schläft er bei Freunden, dann im Park. Dann, in einer ­kalten Nacht, trifft er auf Brigitte, ebenfalls wohnungslos. Sie hat Mitleid mit ihm, sie bietet ihm ihre Decke an. "Ich nenne sie meine Mama und passe auf sie auf", sagt Jerome. Hoffentlich könne er im Frühling eine Bleibe für sie beide finden.

Der Tag ist vollbracht, Flaschen gesammelt und gegen Geld eingelöst. Nun will Jerome für sich sein. Er setzt ­seine Kopfhörer auf, startet auf seinem Handy eine seiner Spotify-Playlisten und beginnt zu tanzen. Die Arme ausgestreckt, die Augen geschlossen.

Lisa, 65 Jahre

Die kleine Frau schimmert ganz in Weiß. Weißer Umhang, weiße Schuhe, weiße Haare und weiße Zähne, die man sieht, wenn sie lacht, und sie lacht oft. Endlich, so scheint es, kann sie erzählen. Aus Polen komme sie, lebe aber schon seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. "Dass ich in einer Notunterkunft schlafen muss, ist der tiefste Punkt in meinem Leben." Von diesem dürfe aber nie jemand erfahren, nicht ihre Verwandten in Polen, auch nicht ihr Sohn in Berlin. "Der ist an Multipler Sklerose erkrankt und muss nun mit seinem Leben zurechtkommen. Da kann er keine Mutter gebrauchen, die ihm die Ohren volljammert."

"Ich habe einen dummen Fehler gemacht." Ihre Wohnung war zu groß, zu heruntergekommen. Sie kündigte, weil sie in eine neue, kleinere Wohnung umziehen wollte. "Nicht bedacht habe ich, dass es überhaupt keine bezahlbaren Wohnungen in Berlin gibt." Drei Monate später stand sie auf der Straße. "Ich dachte, ich muss sterben." Erst kommt sie in Hostels und Pensionen unter, nun ist sie in der Notübernachtung gelandet.

Lisa ist Krankenschwester, in Berlin hat sie bei einem Gynäkologen als Arzthelferin gearbeitet. Nun könnte sie eigentlich ihre Rente genießen, meditieren und Tai-Chi ­machen, "ich war sogar in Indien und habe mir das ­alles beibringen lassen". Stattdessen muss sie den Tag rum­kriegen, spaziert über Friedhöfe, gießt die Blumen fremder Gräber. Vielleicht hat sie eine Chance, über die Wohnungshilfe irgendwo ein eigenes Zimmer zu ergattern. Wenn das ­alles nicht klappt, muss sie wohl zurück nach Polen. "Dann ­würde ich meinen Sohn zurücklassen, das würde mir das Herz brechen."

Andreas hat vor vier Jahren seine Wohnung verloren.


 

Andreas, 47 Jahre

Vor vier Jahren stand Andreas das erste Mal auf der Straße und wusste nicht, wohin. "Herumgelaufen bin ich, habe hier und da geschaut, ob ich mich irgendwo hinlegen kann, doch ich habe mich einfach nicht getraut", sagt er. Am Ende setzte er sich in die S-Bahn, legte die Füße hoch und schloss die Augen. Ein Moment, den er wohl nie vergessen wird.

Heute ist all das Routine. Im Sommer schläft er im Park, auf abgelegenen Bänken, auf denen er nicht so leicht gefunden wird. Manchmal ist es sogar schön, wenn ­morgens die Sonne über dem Wannsee aufgeht, dann fühlt er sich frei und vergisst die Sorgen. Im Winter kommt er in die Notübernachtung. "Hier kann ich duschen, bekomme ­etwas zu essen, habe ein warmes Bett und kann mein Handy aufladen. Das ist viel besser."

"Ich bräuchte eine richtige Wohnung, um wieder auf die Beine zu kommen" Andreas

Andreas hat ein schmales Gesicht, die Wangen sind leicht eingefallen. Leise spricht er, seine Stimme klingt sanft. Jetzt, da er in einem Bett schlafen darf, hat er seinen Schlafsack und seine Isomatte an jemanden verschenkt, der nichts gefunden hat. Seinen Tabak, Papier und Filter gibt er bereitwillig her, als ihn jemand nach einer Zigarette fragt. Er reinigt Toiletten bei Konzerten, verdingt sich bei Rentnern im Garten. Überall, wo ein paar Euros abfallen. Einmal in der Woche verteilt er in einer Suppenküche Essen an andere Obdachlose. "Ich bräuchte eine richtige Wohnung, um wieder auf die Beine zu kommen. Was Kleines würde mir schon reichen."

Im Gemeinschaftsraum bekommen die Gäste Frühstück und Abendbrot. Alkohol wird konfisziert.

Andreas ist in der Nähe von Berlin aufgewachsen. Sein Vater war Kraftfahrer, die Mutter Kindergärtnerin. 2007 starb sie an Krebs. "Sie hat nie ein Wort darüber ­gesagt, bis es plötzlich hieß, dass sie sterben würde. Das hat mich umgehauen." Andreas arbeitete als Veranstaltungs­techniker, sein Job war es, überall die roten Teppiche für die Stars in den Fernsehshows auszurollen. Abends ging er in Eck­kneipen, trank Energydrinks und fütterte den Spiel­automaten. Erst hatte er alles unter Kontrolle, wie er ­versichert, spielte nur die 5- und 10-Cent-Spiele. Doch irgend­wann reichte ihm das nicht mehr. Er erhöhte den Einsatz, spielte an mehreren Automaten gleichzeitig. Wenn er am nächsten Morgen aus der Kneipe schlich, hatte er 1000 Euro verspielt. "Es war ein Sog, ein Rausch. Nichts denken, einfach nur abtauchen und hoffen, dass mit dem nächsten Spiel der Hauptgewinn durchrauscht." Manchmal gewann er. Viel öfter verlor er.

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Andreas häufte Schulden an, konnte seine Rechnungen nicht mehr bezahlen. "Meine Freunde beklauen war das Schlimmste, was ich in meinem Leben gemacht habe. ­Dafür schäme ich mich immer noch." Plötzlich ging es ganz schnell. Privatinsolvenz, Wohnung weg, auf der ­Straße. Der Weg zurück ist viel mühseliger und schwieriger.

Andreas schweigt. Sein Blick fällt auf einen betrunkenen Gast der Notübernachtung, der auf dem Boden liegt und aus eigener Kraft nicht mehr hochkommt. Andreas steht auf, geht zu ihm hin, spricht mit ihm. Dann setzt er ihn auf und winkt einem der Helfer zu. Zusammen haken sie ihn unter, stellen ihn auf und bringen ihn in sein Bett.

Das Besondere an dieser Einrichtung: Jeder hat sein eigenes Bett, das er für die jeweilige nächste Nacht reservieren kann.
Infobox

Ein Zuhause für die Nacht

Die Notübernachtung der Kältehilfe liegt inmitten ­einer Villengegend am Wannsee am Rande von Berlin, ein heruntergekommenes Gebäude aus der Nachkriegszeit. Der erste Stock ist gesperrt, weil es dort hineinregnet und einsturzgefährdet ist. Ab 18 Uhr ­bereiten drei ehrenamtliche Helfer und Helferinnen die nächste Schicht vor. In der kleinen Küche wird ­gekocht. Mit Glück gibt es schon fertige Mahlzeiten aus Kantinen oder Restaurants, die ihnen gespendet wurden. Sonst reicht es nur für Spaghetti mit Tomaten­soße. Wichtig: beim Kochen zu bedenken, dass viele der Gäste schlechte oder gar keine Zähne mehr ­haben.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Noch sind die Zimmer mit den Doppelstockbetten leer, denn tagsüber müssen die 30 Gäste die Einrichtung verlassen. Sie können aber ihre Rucksäcke, Koffer und Taschen dalassen. Manche Betten sind ordentlich gemacht, andere ­hastig ver­lassen. Einige Gäste haben ihre Jacken fein säuberlich aufgehängt, andere alles auf einen Haufen geworden. Das Besondere an dieser Einrichtung: ­Jeder hat sein eigenes Bett, das er für die jeweilige nächste Nacht reservieren kann. Er oder sie muss bis 20 Uhr da sein, sonst wird der Platz an andere ver­geben. Ein Team von Ehren­amtlichen, koordiniert von einer hauptamtlichen Fachkraft, kümmert sich um die Gäste. Träger der ­Berliner Kältehilfe ist die "Neue Chance", die 2010 von der Diakonie gegründet wurde und zur Gebewo – ­Soziale ­Dienste in Berlin – gehört.
19 Uhr. Das Essen steht bereit. Die Helfer öffnen die Tür. Die ersten Gäste warten schon. Sonntags sind alle einigermaßen nüchtern. Die Supermärkte haben zu, Alkohol gibt es nur im teuren Spätshop. Am Montag jedoch torkeln und lallen einige von ihnen. Die ­Jüngeren von ihnen kommen aus Polen, manche aus Russ­land. Die Älteren sind zumeist Deutsche. Einige ­stammen aus arabischen Ländern.
Erst werden die Gäste auf einer Vornamensliste ­abgehakt. Dann werden sie auf Alkohol, Waffen und ­Drogen abgesucht. Wer seinen Alkohol freiwillig abgibt, bekommt die Flasche am nächsten Morgen ­wieder. Auch Gewalt und Diskriminierung sind ver­boten. Die Helfer notieren alle Vorkommnisse in einem Protokoll, damit die nächste Schicht informiert ist.
Montags gibt es vor dem Einlass noch einen Corona-­Test, dienstags werden Decken und Bettwäsche ausgetauscht. Die Gäste können ihre Wäsche waschen, sich duschen. Shampoo, Waschpulver und Rasierzeug werden bereitgestellt. Ab 22 Uhr ist Nacht­ruhe. Die meisten gehen aber schon früher schlafen.
Um 6 Uhr wird geweckt, dann gibt es Kaffee, Tee und Frühstück. Um 7 Uhr müssen die Gäste die ­Unterkunft verlassen haben. Geöffnet ist von Anfang ­Oktober bis Ende April. Dazwischen wartet die Straße.

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Sehr geehrte Damen und Herren,

ziemlich erstaunt war ich, als ich die Überschrift des Artikels auf Seite 31 über die Notunterkunft der Kältehilfe in Berlin las:
Ein warmes Bett und eine Dusche
Und das Handy aufladen!
Im Bericht über Jerome, 51 Jahre, aus den USA, wird sein Handy dann sogar eigens erwähnt.
Durch die gepulsten, hochfrequenten elektromagnetischen Wellen des Mobilfunks wird der Gesundheit von Natur und Menschen geschadet. Daher finde ich, dass man niemals wie selbstverständlich über Handys schreiben sollte. Wenn diese Funkgeräte schon erwähnt werden, dann bitte wenigstens nicht ohne ein paar kritische Anmerkungen.
Zitat von Elie Wiesel: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.

Mit freundlichen Grüßen
R. Reihs

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Man kann als Obdachloser unter einer Brücke schlafen, er hat aber nicht mehr die Kraft, über eine Brücke zu gehen.
Das große Problem in Deutschland, haste keine Wohnung, kriegste keine Arbeit und ohne Arbeit kriegste keine Wohnung. Ein Teufelskreis. Und unsere Beamten? Gut im Futter, gut finanziell abgesichert und bestimmen über die Armen!

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