Kapitänsbinden im Wind
Torwart Manuel Neuer trägt die "One Love"-Binde beim Testspiel im Oman am 16. November 2022. Bei der WM in Katar verzichtet er darauf.
Markus Ulmer/imago images
Kapitänsbinden im Wind
Manuel Neuer und die Kapitäne weiterer Nationalmannschaften werden keine "One Love"-Binde tragen, weil sie Sanktionen der Fifa fürchten. Das disqualifiziert sie als Vorbilder.
Tim Wegner
21.11.2022

Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass man sich an sie hält. Es sind Werte, die einen Menschen definieren. Die zeigen, mit wem man es zu tun hat. Sie bieten Orientierung und Verlässlichkeit.

Tim Wegner

Michael Güthlein

Michael Güthlein ist Redakteur am Magazin-Desk von chrismon, epd Film und JS-Magazin. Zusammen mit Konstantin Sacher schreibt er die Kolumne "Väterzeit". Er hat Journalismus, Geografie und Germanistik in Mainz und Bamberg studiert. Er schreibt am liebsten über gesellschaftspolitische Themen und soziale Gerechtigkeit.

Die deutsche Fußballnationalmannschaft steht für Vielfalt und Toleranz. In ihr soll sich widerspiegeln, was die Gesellschaft ausmacht. Sie soll ein Vorbild sein – vor allem für Kinder und Jugendliche. In der Nationalmannschaft spielen Menschen verschiedener sozialer Herkunft, Hautfarbe und vielleicht auch sexueller Orientierung (auch wenn sich nach wie vor kein aktiver Spieler outet) miteinander. Das zeigt: Es geht beim Fußball nicht darum, wo du herkommst oder ob deine Eltern reich sind. Sondern es geht darum, dass du gut Fußball spielen kannst. Es geht darum, dass du ein Teamplayer bist. Dass du fair zu deinen Mit- und Gegenspielern bist. Dass du dich anstrengst, um etwas zu erreichen, dass du diszipliniert bist.

Dass sich die Mannschaftskapitäne diesem Kotau anschließen, ist erbärmlich

Die "One Love"-Binde, die Manuel Neuer als Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft während der WM tragen wollte, wäre ein für Millionen Menschen sichtbares Signal für Toleranz und für Solidarität gewesen. Solidarität mit Menschen, die diskriminiert werden, weil andere ihr Schwulsein, Queersein, Transsein nicht ertragen. Am Wochenende hat ein Attentäter in den USA fünf Menschen in einem Schwulenclub getötet. Die LGBTQIA+-Community hätte mutige Zeichen der Solidarität nötiger denn je. Stattdessen nehmen Manuel Neuer und seine Kapitänskollegen aus Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden die "One Love"-Binde unter Druck der Fifa ab, weil sie Sanktionen fürchten.

Manuel Neuer und einige europäische Verbände zeigen dadurch, dass sie prinzipienlos sind. Dass das Gefasel von Toleranz und Werten nur Imagegründe hatte. Prinzipientreue zeichnet sich dadurch aus, dass man Prinzipien auch in schwierigen Zeiten hochhält und nicht nur dann, wenn es kuschelig und opportun ist.

Dass die korrupte, moralisch vollkommen verkommene Fifa unter dem Druck der homophoben, frauenfeindlichen katarischen Funktionäre einknickt, ist weder neu noch verwunderlich. Aber dass sich die Mannschaftskapitäne diesem Kotau anschließen, ist erbärmlich. Wenn die Spieler trotz Drohungen der Fifa die Binde tragen würden – alle zusammen, als internationales Team der Solidarität sozusagen – bliebe der Fifa nur die Möglichkeit, sie konsequent mit der Gelben Karte zu sanktionieren oder die Drohungen verhallen zu lassen – beides wäre eine Blamage für den Weltfußballverband und ein Zeichen der Stärke und des Mutes der Spieler, sich keinesfalls Wirtschaftsinteressen zu beugen, sondern Werte zu leben und Vorbilder zu sein. Sie haben sich dagegen entschieden und ihre angeblichen Prinzipien als wertlos enthüllt. Diese Mannschaften haben die WM schon verloren, bevor sie das erste Mal auf dem Rasen standen.

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GÜTHLEIN schreibt: "Die deutsche Fußballnationalmannschaft steht für Vielfalt und Toleranz. In ihr soll sich widerspiegeln, was die Gesellschaft ausmacht. Sie soll ein Vorbild sein – vor allem für Kinder und Jugendliche."

Und was, wenn sich Kinder und Jugendliche nicht für Fußball interessieren? Und auch nicht dafür, WO sich WAS widerspiegeln soll? Müssen diese Kinder und Jugendlichen sich dann ein bisschen schämen? Vielleicht, weil sie ahnen, dass es sich bei Fußball, der nicht auf Pausenplätzen, sondern im TV stattfindet, nicht um ein Spiel handelt?

(Zitat) - "Es ist ein Milliardengeschäft, das vom Kalkül einiger Sportinvestoren und vor allem von den Sportswashing-Ambitionen wirtschaftlich aufstrebender Mächte gesteuert wird. Dadurch werden Fussballteams wie ManCity oder Paris St. Germain zusammengestellt, als ob ein Fünfjähriger im Zuckerflash ein EA-Allstar-Team wählen würde.
Das alles geschieht in Europa. Und in Europa werden TV-Rechte vergeben, die diesen Wahnsinn befeuern." (S. JUETTE, *RefLab*)

Sieht man mal von dem Gefasel von "Zeichen der Stärke und des Mutes der Spieler, sich keinesfalls Wirtschaftsinteressen zu beugen, sondern Werte zu leben und Vorbilder zu sein" ab, so lässt sich m. E. Selbstverdummung auch auf andere Weise - und vor allem viel wirkungsvoller erreichen.

"Das Volk" will wohl schöne Worte hören, ohne sie für sich einhalten zu müssen. Fussball auf diesem Niveau ist kein Sport, nur ein Kampf am Rande von dubiosen Regeln. Wrestling um einen Ball.

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Der Autor schreibt: "Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass man sich an sie hält." Das ist ein verbreiteter Irrtum. Das Gegenteil ist richtig. Prinzipien sind die Fahnen, hinter denen man sich einreiht. Es sind die Glanzlichter, von deren Schein man profitieren möchte, wenn man vorhat, sich nicht an sie zu halten. Wer einleitend erklärt, dass er "im Prinzip" etwas darstellt oder tut, der bereitet sein Publikum darauf vor, dass er sich nicht ans Prinzip halten wird.

Und warum ist das so? Weil die Interessen, die Menschen haben, sich aus ihrer tatsächlichen, im Wesentlichen gesellschaftlich bedingten Lage ergeben. Zuzugeben, dass man seine Interessen verfolgt, ist aber moralisch verpönt. Die Moral und Ethik verlangen, dass man sein Tun und Lassen als von Werten gesteuert auffasst. Wer von Prinzipien redet, will von Interessen schweigen oder sie als Spielmaterial von Werten missverstehen.

Das Wesentliche an dieser hoch angesehenen systematischen Verlogenheit ist: Manche Interessen (gewisser kleinerer Kreise) setzen sich auf diesem Weg regelmäßig durch, andere (gewisser ziemlich gr0ßer Kreise) bleiben ebenso regelmäßig auf der Strecke. Die Welt sich als Schlachtfeld von Werten und Prinzipien vorstellig zu machen, ist also für den weitaus größeren Teil der Zeitgenossen ein gefährlicher Schnitt ins eigene Fleisch.

"Im Prinzip" ist das nicht schwer zu verstehen. Um es wirklich zu verstehen, wird man nicht umhinkommen, manches in Ehren stehende Gedankengut als irrtümlich zu erkennen.

Traugott Schweiger

Antwort auf von Traugott Schweiger (nicht registriert)

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Super Kommentar. Was nutzt das schönste Prinzip wenn andere es nicht so wichtig nehmen. Ach wie tut es gut, edel und deutsch zu sein. Neuer ohne Binde und aus Argentinien 40.000 Fans. Aus Mexico, ganz Nordafrika, Süd- u. Mittelamerika und den USA und dem übrigen Afrika sind die Stadien voll. Unsere Vorbehalte sind dagegen Fremdworte. Ob gut oder schlecht ist dieser Welt egal. Auch mit dieser speziellen Form der Toleranz der Intoleranz können andere gut leben. Wir tun uns schwer damit. Mit mahnendem Finger löst man keine Problem. Wenn sie denn überhaupt zu lösen sind. Evangelisch und nordisch die Welt verbessern und katholisch und südlich leben und leben lassen. Platt aber brutal auf den Punkt gebracht. Darüber kann man auch anders denken. Die Welt ist nicht nach unseren Wünschen "geschöpft".

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