Russland - Entsetzt vom eigenen Land
Russland - Sind Sie ein Patriot?
Michael Galian, Patrick Junker
Entsetzt vom eigenen Land
Die Fotografen Michael Galian und Patrick Junker haben Menschen ­aufgesucht, die aus Russland geflohen sind – vor einem dysfunktionalen Staat, vor der Lüge, vorm Kriegsdienst. Sechs Porträts.
06.07.2022

"Ich habe wahrscheinlich seit 2011 kein Fernsehen mehr in Russland geschaut. Ich habe damals schon ­gemerkt, dass wir ange­logen werden. Unser Gesundheitssystem wird als sehr gut dargestellt. Aber unsere Krankenhäuser sind in einem sehr schlechten Zustand. Ich habe meinen sechs Monate alten Sohn fast wegen einer Lungen­entzündung verloren. Sie wurde über einen Monat nicht erkannt. Ich hatte viele Verwandte, die jung mit Lungen­entzündungen oder Leber­erkrankungen starben."

Sascha, 39, Lkw-Fahrer aus dem Moskauer Gebiet

Sascha, 39, Lkw-Fahrer aus dem Moskauer Gebiet. Er ging nie zu Demonstra­tionen, finanzierte aber die ­Aktivitäten seines Freundes, des Oppositions­politikers ­Roman Kovalev. Als der Krieg ausbrach, beschloss Sascha, Russland zu verlassen und im Ausland Arbeit zu suchen. So möchte er seinen Söhnen eine gute Zukunft sichern. Nach zwei Wochen in Istanbul flog Sascha nach Mexiko. ­Mittlerweile hat er sein Ziel, die USA, erreicht.

"Ich würde die der­zeitige Regierung in Russland mit einem Tyrannen ver­gleichen, einem häuslichen Gewalt­täter, der seine ­ganze ­Familie in den ­Klauen hat und alle möglichen Gräueltaten begeht. Und er kommt mit allem durch, denn er ist das Familienoberhaupt. Ich fühle mich in diesem Land wie ein kleines Kind ohne Mitspracherecht. Vielleicht habe ich eine Stimme, aber sie wird nie gehört, und ­alles wird so sein, wie es das Familien­oberhaupt will.
Ich habe an eine Hilfs­organisation in der Ukraine gespendet, das zählt mittlerweile als Staatsverrat. Dafür kann es bis zu 20 Jahre Haft geben. Gleichzeitig fühlte ich mich als Flüchtling wie eine Hochstaplerin. Über mich sind keine Raketen geflogen. Keiner meiner Verwandten noch ich leiden so sehr unter dem Krieg wie die Ukrainer und die Ukrainerinnen."

Viktoria Antoschina, 29, Journalistin aus Moskau

Viktoria Antoschina, 29, Journalistin aus Moskau. Sie hat für die unabhängige russischsprachige Medienplattform "Open Media" geschrieben, die im Juli 2021 von der russischen Justiz als "ausländischer Agent" eingestuft und daraufhin geschlossen wurde. Vier Tage nach dem Angriff auf die Ukraine ist sie in Berlin angekommen. Jetzt möchte sie sich dem Team Nawalny anschließen und von Deutschland aus für russische Medien arbeiten.

"Ich bin im wehrpflichtigen Alter. Es bestand eine große Chance, dass ich zur Armee eingezogen und zum Krieg in die Ukraine geschickt werde. Meine ­Mutter ist eine begeisterte Anhängerin der ­Opposition. Sie und unsere ganze Familie wurden dadurch bedroht. Irgendwann musste meine Mutter ihren Job aufgeben, weil sie mehrfach wegen oppositioneller Aktivitäten verurteilt worden war."

Kirill Romanov, 23, Stylist und Designer aus St. Petersburg. Im Sommer 2021 outete er sich in einer Youtube-Show als homosexuell. Daraufhin wurde er online und offline belästigt. Unbekannte haben mehrfach versucht, ihn zu verprügeln. Nach Kriegsbeginn stellte das Modemagazin, für das Romanov arbeitete, die Produktion in Russland ein. Der junge Designer war ohne Arbeit und Perspektive. Anfang März gelang es ihm, nach Istanbul zu fliehen. Er ist sich sicher, dass er nicht nach Russland zurückkehren wird. Zuerst suchte er vergeblich Arbeit in Europa, jetzt ist er in Argentinien. Romanovs ­Eltern und sein kleiner Bruder bleiben in St. Petersburg.

Kirill Romanov, 23, Stylist und Designer aus St. Petersburg

"Meine ukrainischen Freunde haben eine bessere Laune als meine russischen Freunde. Wir tauschen ein paar Memes mit ihnen aus, ein paar nette Witze. Das rettet mich. Manchmal sagen sie mir: ‚Ach, du hast es da so schwer, du musst dir in einer fremden Stadt eine Unterkunft suchen.‘ Auch wenn sie selbst unter Beschuss stehen."

Yulia Maiboroda, 27, Porträt- und Hochzeitsfotografin aus Moskau. Sie und ihr Mann haben viele Freunde und Verwandte in der Ukraine. Ihr Mann reiste am 23. Februar in die Ukraine zur Beerdigung seines Großvaters. Von dort floh er weiter nach Polen. Solange der Krieg andauert, kann sich Yulia nicht vorstellen, Familienporträts zu erstellen oder Hochzeiten zu fotografieren. Sie floh nach Istanbul, wo ihr ein humanitäres Visum für Polen aus­gestellt wurde. Dort will sie mit ihrem Mann zusammenkommen.

Yulia Maiboroda, 27, Porträt- und Hochzeitsfotografin aus Moskau

"Meine Freundin lebte in Donezk. Am 22. Februar sagte sie mir: ‚Ivan, die Panzer kommen.‘ Ich packte sofort meine Sachen in St. Petersburg und machte mich auf den Weg zu unserer geplanten Show nach Brüssel. Am nächsten Tag war die Welt eine andere. Alle Flüge nach Russland waren gestrichen, und wieso sollte ich in ein Land zurückkehren, in dem ich nicht der sein darf, der ich bin. Ich unterstütze diesen Krieg nicht. Es geht in der russischen Kultur nicht um den Tod, nicht um Morde und irgendwelche nicht realisierten imperialen Komplexe."

Ivan Sitnikow-Koginow, 35, Balletttänzer aus St. Petersburg. Nach der Annexion der Krim 2014 hat er die Zusammen­arbeit mit dem Staatstheater beendet, hat aber vermieden, sich klar ­politisch zu positionieren. Heute bereut er, dass er ­damals nicht mehr getan hat. Mit seiner Freundin, einer ukrainischen Balletttänzerin, lebt er nun in Berlin. Ende Mai war er auf Balletttournee in Peru.

Ivan Sitnikow-Koginow, 35, Balletttänzer aus St. Petersburg

"Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Haus und Zuhause. Eine befreundete russische Journalistin hat neulich geschrieben, dass viele Ukrainer ihre Häuser verloren haben, aber noch wissen, was ihr Zuhause ist. Ich finde, für Russen, die jetzt ihr Land verlassen, ist es eine andere Geschichte. Sie haben ihre Häuser noch, aber ihr Zuhause verloren."

Angelina Davydova, 44, aus St. Petersburg. Als Umweltjournalistin schreibt sie für internationale und russische Medien. Seit 2008 ist sie russische Beobachterin der UN- Verhandlungen zum Klimaschutz und unterrichtete Umwelt und Klimapolitik an Universitäten in Russland.

Angelina Davydova, 44, Umweltjournalistin aus St. Petersburg

Sind Sie ein Patriot?

Und werden Sie jemals nach Russland zurückkehren? Fragen an den russischen Fotografen Michael Galian und seinen Partner Patrick Junker.

Michael GalianPrivat

Michael Galian

Michael Galian, 1990 in Tscheljabinsk, Russland, geboren, studierte Journalismus in seiner Heimatstadt und Fotojournalismus in Hannover. Seit 2014 arbeitet er frei, seit 2019 auch für den "Bremer Weserkurier".
Privat

Patrick Junker

Patrick Junker (Jahrgang 1991) ist freier Fotojournalist in Dortmund. Er hat im August 2020 seinen Bachelor in Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover abgeschlossen

chrismon: Wie kamen Sie auf diese Fotoserie?

Patrick Junker: Micha und ich haben 2014 zusammen angefangen, Fotografiejournalismus in Hannover zu studieren. Was damals auf der Krim und im Donbass geschah, habe ich nicht verstanden. Dann brach im Februar der Krieg aus. Und ich kenne so viele Russen. Ich sah eine Instagram-­Story von Micha: "All meine russischen Freunde über­legen, wie sie wegkommen." Da habe ich Micha angerufen.

Michael Galian: Ich komme aus Russland. Eigentlich wollte ich dahin nach dem Studium zurück. Aber erst fing der Krieg im Donbass an, dann kam der 24. Februar, ein großer Schock. Ich hatte schon vorher das Gefühl, ich kann nicht zurück. Plötzlich war ich wie gelähmt. Ich ­habe meine Gedanken auf Instagram gepostet. Dann kam ­Patricks Anruf. Wir hatten beide die gleiche Idee.

Wer sind die Porträtierten?

Galian: Wir haben sie alle erst durch die Recherche kennen­gelernt. Ich hatte in meinem Bekanntenkreis gefragt, aber niemand von denen, die schon geflüchtet ­waren, wollte offen sprechen. Ich habe in den sozialen Medien nachgeschaut, Telegram-Gruppen kontaktiert. Bei uns in der Nähe, in Dortmund und Bremen, hat sich niemand gemeldet. In Berlin waren es immerhin zwei. Dann wurde klar: Die allermeisten schaffen es gar nicht in die EU.

Junker: Ende März sind wir nach Istanbul geflogen. Kurz vor der Abreise sagten uns drei Leute ab. Wir flogen trotzdem, und es ergab sich einiges vor Ort. Mit Hilfe der Organisation "The Ark" fanden wir eine ganze WG. Sie wollten sich alle zeigen und reden.

Haben die Leute von sich aus losgeredet?

Junker: Die Interviews gehörten von vornherein zu unserer Arbeit. Wir wollen die Leute verstehen, die wir porträ­tieren: Wie ist es, jetzt in Russland zu leben oder aus Russland zu kommen? Wie gehen die Leute damit um?

Was sehen Sie in den Gesichtern der Porträtierten?

Junker: Ein Zitat steht für mich für die ganze Arbeit: "Die Ukrainer verlieren ihre Häuser, aber nicht ihr Zuhause." In jeder Familie gibt es Leute, die den Krieg nicht verurteilen, sondern sogar befürworten. Ich habe überlegt: Wie würde ich damit umgehen, wenn mein Land so etwas einem anderen Land antun würde? Wir haben versucht, das mit dem Licht und der Stimmung in den Gesichtern aufzunehmen.

Galian: Alle unsere Protagonisten sind gegen den Krieg. Nicht alle sind politisch verfolgt. Aber sie sind alle klar ­positioniert. Und sie sind in einer sehr fragilen Position, weil sie ja trotzdem Russen sind und automatisch mit ­diesem Land assoziiert werden, das den Krieg ­angefangen hat. Noch ein wichtiges Zitat: Eine Protagonistin fühlt sich als Hochstaplerin, weil sie Asyl beantragen musste, während sie gleichzeitig sieht, wie viel mehr die Ukrainerinnen und Ukrainer unter diesem Krieg leiden.

Herr Galian, fühlen Sie sich als Patriot?

Galian: Nein. Ich finde die Idee des Patriotismus bestenfalls veraltet. Einem Staat treu zu sein ist im Jahr 2022 ein falsches Konzept. Ich liebe meine Familie, die teilweise noch in Russland ist. Ich liebe die russische Sprache. Aber ein Patriot bin ich nicht.

Viktoria Antoschina vergleicht die derzeitige Regierung in Russland mit einem häuslichen Gewalttäter.

Galian: Als sie das sagte, dachte ich: Ja, ich fühle das ­Gleiche, nun hat es jemand laut ausgesprochen. Ich musste an mich halten, dass ich sie reden lasse, um das Interview nicht zu verderben. Es war schon vor zehn Jahren so, als ich noch in Russland war: Allen wird gesagt, was sie tun sollen – was Frauen tragen dürfen, dass Männer stark und kämpferisch sein sollen, und jetzt, dass alle den Krieg gutheißen sollen. Die Familie ist heilig, das Gleiche gilt fürs Land. Das macht alle Fragen und Zweifel kriminell.

Was muss geschehen, damit sich die Porträtierten in Russland wieder heimisch fühlen können?

Galian: Das haben wir auch gefragt. Etwa ein Drittel hat gesagt: Ich kann mir keine ausreichende Veränderung vorstellen; Russland ist für mich durch. Ein weiteres Drittel sagte: Putin muss weg. Die anderen wussten es nicht. Eine sagte: Wenn der Krieg vorbei ist, kann ich zurück.

Und wie geht es Ihnen?

Galian: Mir fehlt so viel, was ich in Russland hatte. Aber seit dem 24. Februar denke ich nicht mehr darüber nach. Ich glaube nicht, dass ich irgendwann zurückkehre. Jedenfalls nicht dauerhaft – mein Vater lebt noch da.

Wie stellen Sie sich die Welt nach dem Krieg vor?

Junker: Wird Putin jemals sagen: "Wir verlassen die Ost­ukraine"? Ich kann es mir im Moment nicht vorstellen. Ich komme gerade aus Finnland zurück, wo ich zum ­Nato-Beitritt recherchiert habe: Wie denken die Leute darüber? Da fliegt oft ein Hubschrauber ganz knapp über die Grenze. In Georgien schiebt der russische Staat die Grenze immer weiter vor ins andere Land. Es scheint, dass Putin den Mund nicht vollkriegen kann.

Fragen: Burkhard Weitz

Spendeninfo

Onlinespenden an das russische Antikriegskomitee über  www.antiwarcommittee.info/en/the-ark

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Heute Putin: Wir haben noch gar nicht richtig begonnen!
Wann will er denn richtig enden? Fr. Käßmann, immer noch verhandeln? Und sie dann auch noch als EKD Vorsiztzende.

Frau Käßmann hat schon recht, wir dürfen keine Waffen liefern und müssen kommunizieren, doch leider nutzt sie auch nicht das wahre Potential des christlichen Wortes.

Antwort auf von Horst (nicht registriert)

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Und wenn sie Putin die ganze Bibel vorlesen würde. Nicht mal Kyrill hat das Potential. Eine Kugel hat mehr Potential als jedes Wort. Als Vogel braucht man nicht zu arbeiten. Und er ernährt sie doch. Putin würde unsere Hirne desinfizieren.

Antwort auf von Horst (nicht registriert)

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Das Potential des christlichen Wortes? Ja, wo ist es denn? Hat ein Wort je eine Kugel aufgefangen? Worte bedeuten nichts, wenn sie nicht mit Versprechungen oder Angst "beflügelt" werden. Keine Waffen?! Dann auch konsequent sein, und für uns auch nicht. Die BW abschaffen, die Hände hoch und hoffen, dass die Gewalt gnädig ist. Lieber unterjocht werden, die Religion (der Eroberer wird sie als gegen seine Interessen verurteilen) wechseln oder verteufeln, als sich zu wehren. Jetzt hat Putin Kinder in Umerziehungslager deportiert. Mit ihm immer noch verhandeln wollen? Unsere von ihm vermutete Naivität hat ihn zur Gewalt geführt. Mit dieser Last müssen die Toleranten leben. Dabei hätten sie es wissen müssen, denn die Existenz der Kirchen (nicht des Glaubens!) beruht auf Intoleranz und Macht. Auch die Mission war früher zu einem erheblichen Teil hiervon motiviert. Die Wahrheit Nr. 2 ist die Lüge, die wider besseren Wissens die Realitäten und menschlichen Schwächen nicht wahr haben will.

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Heute Putin: Wir haben noch gar nicht richtig begonnen!
Wann will er denn richtig enden? Fr. Käßmann, immer noch verhandeln? Und sie dann auch noch als EKD Vorsitzende.
Was sagt denn die EKD dazu?

Der Westen hat auch noch garnicht richtig angefangen sein wahres Gesicht zu zeigen, er muss noch den "Rest" der Welt der Globalisierung der "Dienstleistungsgesellschaft" unterwerfen!!!

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Seit meiner Kindheit bin ich entsetzt von meinem eigenen verlogenen Land/Landsleuten - Niemand ist im Westen in einem ehrenwerten Land angekommen, die Lügen werden hier nur anders verpackt.

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