Kirchenmitglieder werden zur Minderheit
Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört einer der beiden großen Kirchen an. Das muss nicht nur zum Schaden sein.
Tim Wegner
27.06.2022

Im vergangenen Jahr hat die katholische Kirche in Deutschland über eine halbe Million Mitglieder verloren. Viele sind gestorben, aber knapp 360.000 Katholiken sind ausgetreten - so viele wie noch nie. Das gab die Deutsche Bischofskonferenz am Montag bekannt. Im selben Zeitraum sind 280.000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Viele sind fassungslos über die Fälle sexualisierter Gewalt in den Kirchen und wütend darüber, wie vor allem die katholische Kirche damit umgeht. Andere kehren den Kirchen still und leise den Rücken, weil ihnen Gottesdienste und religiöse Überzeugungen nichts mehr sagen und auch die engagiertesten Pfarrerinnen sie nicht mehr erreichen. Religionssoziologen sind sich einig, dass sich diese Entwicklung fortsetzen und vielleicht sogar beschleunigen wird. Denn so wie früher die Kirchenzugehörigkeit dem Einzelnen in die Wiege gelegt wurde, wird nun die Kirchendistanz vererbt.

Zum ersten Mal sind jetzt weniger als die Hälfte der Deutschen Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Die katholischen Bistümer kommen noch auf 21,6 Millionen Mitglieder, die evangelischen Landeskirchen auf 19,7 Millionen. Die Kirchenmitglieder sind nun in der Minderheit, und das wird das Land verändern. Nicht mit einem Donnerschlag, nicht von heute auf morgen. Das Wissen über kirchliche Traditionen und religiöse Inhalte wird schleichend, aber spürbar verloren gehen. Damit wird das Verständnis für religiöse Praktiken und auch für grundlegende ethische Traditionen weiter abnehmen. Schon heute müssen sich religiöse Menschen zunehmend dafür rechtfertigen, dass sie an etwas Unverfügbares glauben und auf etwas hoffen, das sich naturwissenschaftlichen Erklärungen entzieht. Das ist sehr anstrengend und unbequem. Zu schrumpfen macht keine gute Laune.

Jetzt muss man sich selbst noch mehr einbringen

Langfristig muss das für die Kirchen und ihre verbleibenden Mitglieder aber nicht nur zum Schaden sein. Je mehr man erklären und rechtfertigen muss, umso stärker muss man sich mit den eigenen Überzeugungen und dem eigenen Glauben auseinandersetzen. Das kann zu lebhaften, auch hitzigen Debatten führen und die Gemeinden stärken, vorausgesetzt, Pfarrerinnen und Pfarrer sind darauf vorbereitet. Dass man nicht mehr so einfach darauf hoffen kann, dass es die Institution schon richtet, könnte gerade für die liberal denkenden Christen Ansporn sein, sich mehr in die politischen und gesellschaftlichen Debatten einzumischen.

Mutig und umso kreativer weitermachen, jetzt erst recht, das ist die große und schwierige Aufgabe der nächsten Jahre. Diese Aufgabe beherzt anzugehen, das sind die Kirchen den vielen Menschen schuldig, die noch immer auf sie setzen. Die für gute Argumente offen sind, Trost und Beistand suchen und als Geflüchtete und Hungernde und auf konkrete Hilfe angewiesen sind.

 

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