Christa Nickels von den Grünen und Diana Kinnert von der CDU
Christa Nickels von den Grünen und Diana Kinnert von der CDU
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Diana Kinnert und Christa Nickels über Einsamkeit
Worauf kann ich mich verlassen?
Christa Nickels von den Grünen und Diana Kinnert von der CDU über Einsamkeit. In der Stadt, auf dem Land, in der Politik. Und darüber, was ihnen Halt gibt.
Tim Wegner
26.01.2022
10Min

chrismon: Frau Nickels, Frau Kinnert, wann haben Sie selbst sich zuletzt einsam gefühlt?

Christa Nickels: Wir haben gerade meine Schwieger­mutter mit 94 beerdigt, wir haben uns sehr gemocht. Am Grab habe ich mich sehr einsam gefühlt, so eine existenzielle Einsamkeit. Sie kannte mich, seit ich 19 war. Zu ­wissen, dass da jetzt der letzte Elternteil weg ist, mit dem man so verbunden war – da habe ich sie schon sehr vermisst.

Diana Kinnert: Meine Mutter starb vor fünf Jahren plötzlich an einem Aneurysma. Mir war gar nicht gleich klar, wie groß der Schmerz war. Ich stand unter Schock, innerhalb kürzester Zeit starben meine Mutter, meine Großeltern, aber auch Peter Hintze, bei dem ich Büroleiterin war, und Rupert Neudeck, mit dem ich befreundet war. Erst habe ich mich in die Arbeit gestürzt. Und dann habe ich gemerkt, es gibt nicht nur diese "alte" Einsamkeit. Diese Verwaistheit. Sondern man läuft vor sich selbst weg, ich war von mir selber getrennt. Überfordert. Und das geht vielen jungen Leuten so, dann habe ich mich politisch dem Thema genähert.

Privat

Christa Nickels

Christa Nickels, ­Jahrgang 1952, ist ­gelernte Krankenschwester, Politikerin, Gründungsmitglied der NRW-Grünen, ­Parlamentarische Staatssekretärin a. D. Gerade erscheint "Die ­Unbeugsamen" auf DVD (Universal Pictures, um 16 Euro), ein ­Dokumentarfilm über Politikerinnen in der Bonner Republik, in dem auch sie vielfach zu Wort kommt. Christa Nickels ist ­verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in einem Dorf bei Aachen.
Diana KinnertFuture Image / Imago Image

Diana Kinnert

Diana Kinnert, ­geboren 1991 in ­Wuppertal, ist CDU- Politikerin, Publizis­tin und Gründerin und Geschäfts­führerin von Newsgreen, einer Innovations­plattform für nachhaltige ­Städteplanung. Sie berät das britische Minis­terium für ­Einsamkeit. Ihr Buch "Die neue ­Einsamkeit. Und wie wir sie als ­Gesellschaft über­winden können" (­Hoffmann und Campe, 448 Seiten, 22 Euro) ­erschien 2021. Diana Kinnert angelt gern und lebt in Berlin.

Um welche Gruppe in der Gesellschaft machen Sie sich die meisten Sorgen?

Kinnert: Wenn man Einsamkeit sagt, denken alle überspitzt gesagt an die Pflegebedürftigen auf dem Land. Drum schau ich auch auf die Jungen. Wie funktionieren Demo­kratie und Zusammengehörigkeit überhaupt noch, wenn die Bindungs­losigkeit verherrlicht wird? Meine Eltern erzählen von Kontinuität und Verlässlichkeit im Erwerbsleben. Sie sparten, sie wurden befördert, der Kredit wurde abbezahlt. Man konnte mit Vertrauen aufs eigene Leben schauen. Bei mir ist alles befristet, kurzfristig, projektorientiert, auf nichts kann man sich verlassen. Und die Duzkultur im Start-up suggeriert eine Nähe, die gar nicht da ist. In Wahrheit hatte die Schlecker-Frau im Betriebsrat viel bessere Rechte!

"Wenn man nicht ganz in sich selbst verhockt ist, ist es auf dem Dorf leichter" - Christa Nickels

Ist man im Dorf weniger einsam, Frau Nickels?

Nickels: Ich komme aus einer alteingesessenen Bauern­familie, wir kennen uns alle im Dorf. Wenn Sie neu hinzukommen, müssen Sie sich schon selber aus dem Stuhl ­erheben. Sie müssen ja nicht die ganze Folklore mit­machen, aber Kirmes, Tannenbaum zusammen schmücken, einfach ein Glas mittrinken – da kann man nette Bekanntschaften machen. Selbst unter Corona sind auf dem Dorf viele draußen unterwegs, im Garten oder mit dem Hund. Man kann sich leichter ansprechen. Wenn man nicht ganz in sich selbst verhockt ist, ist es auf dem Dorf leichter.

Kinnert: In Göttingen, wo ich studiert habe, sagten die ­Supermarktkassiererinnen, alle drei Jahre kommt der neue Jahrgang. In Berlin-Mitte ist das noch krasser. Ich ­habe ­lange am Rosenthaler Platz gewohnt, da ist wahnsinnig viel Fluktuation. Der nächste Pop-up-Store, das nächste skandinavische Möbelgeschäft, der nächste koreanische Chicken-­Imbiss. Was damals der Expressionismus in der Kunst ausgedrückt hat: die Anonymität der Großstadt. Vor einigen Jahren haben Nachbarn noch bei mir ge­klingelt, wenn meine Musik zu laut war. Heute kommt das Ordnungs­amt und sagt: Jemand hat angerufen, es ist zu laut. Symptomatisch für eine ganze Kultur: Beziehungen werden nicht durch Konfrontation geprägt, sondern durch Vermeidung.

"Lieferdienste sind praktisch. Aber ich mische mich eben nicht mehr unter die Menge" - Diana Kinnert

Traut man sich als junger Mensch denn gar nicht mehr so richtig raus? Wir lesen viel von social anxiety . . .

Kinnert: Neuerdings gibt es Lieferdienste wie Gorillas und Flink: Ich sitze zu Hause und klicke drei Apfelsorten, Eier und Milch an. Das dauert zehn Minuten, und alles ist da. Früher war ich mit Anziehen, Rausgehen, Einkaufen eine Stunde unterwegs. Klar ist das praktisch, aber ich mische mich eben nicht mehr unter die Menge. Das macht was mit uns. Man kommt nach längerer Zeit mal wieder in den Supermarkt und merkt: Oh, was ganz anderes ist gerade in. Durch personalisierte Produktangebote im Digitalen ist man nicht mehr Teil einer Gemeinschaft.

Nickels: Da kommen mir Bilder aus der Natur in den Sinn. Ich habe zwei Birken vor dem Haus, die leben in Sym­biose mit Fliegenpilzen. Der eigentliche Pilz ist ja ein unter­irdisches Myzel, der mit den Baumwurzeln verbunden ist. Was Sie schildern, Frau Kinnert, klingt nach dieser Verbundenheit, die man im Kiez eigentlich hat. Aber man braucht dafür eben Berührungsflächen. So flüchtige wie kontinuierliche, aber leibhaftige Begegnungen sind wichtig für uns, für die Vergesellschaftung von Lebewesen. Ich weiß genau, was Sie meinen.

Kinnert: Mehr noch: Gewerkschaft ist out, Politik ist out, Kirche ist out – dabei sind Institutionen und Rituale so wichtig.

Kirchen sorgen für viele noch für Zusammenhalt . . .

Kinnert: Ich bin ein sehr christlicher Mensch, darum bin ich auch in die CDU eingetreten. Meine Mutter aus den ­Philippinen war eine liberale Frau, mein Vater aus Schlesien ein strenger Katholik. Ich war auch Mess­dienerin. Meine Schwester und ich sind aus Wuppertal weg­gezogen, viele Freundschaften waren auf einen Instagram-­Geburtstagsgruß beschränkt. Aber auf der ­Beerdigung ­unserer Mutter waren zwei ehemalige Klassenkameradinnen meiner Schwester die Messdienerinnen. Da habe ich gespürt, die Gemeinde ist ein Schiff, das trägt tatsächlich! Als homosexuelle Frau weiß ich aber auch, dass der Apparat Kirche viele Fragen und unerfüllte Wünsche aufwirft.

Nickels: Ich bin auch im katholischen Glauben aufgewachsen. Wir waren sehr verwurzelt in unserem Dorf, aber meine Eltern waren sehr weltoffen. Ich hatte eine glückliche Spannung, auf dem Land, erdverwurzelt, aber eben mit einem freien Kopf, das hat meinen Glauben sehr geprägt. Ein Gott, der Mensch wird, die Menschen be­gleitet, ermutigt, nicht von deren Seite weicht, auch nicht, wenn ihm Folter droht – das ist ein Gott, den ich an­nehmen kann, dem ich vertrauen kann. Und dieser Glaube hat mich immer durchgetragen. Zur Institution hatte ich so wie Sie ein ambivalentes Verhältnis, meine katholische Kirche schwört den Heiligen Geist herbei, aber wenn er ausbricht, fegt man ihn beiseite und will ihn nicht sehen. Damit verbaut man dem suchenden Menschen den Zugang zu einem Schatzhaus, schreckt ihn ab. Die Menschen wollen sich beheimatet fühlen, man ist doch dankbar für eine kompetente, wissende, solidarische Autorität. Doch die Institutionen – die Kirchen, die Gewerkschaften, die Parteien – sind weit hinter dem zurück, was die heutige Zeit erfordert. Sie müssen sich dringend erneuern.

Sie beide haben immer wieder Sexismus erlebt – da fühlt man sich auch einsam.

Kinnert: Ja. Im Sommer war ich beim Europäischen ­Forum Alpbach, das kleine Davos, eine internationale Konferenz. Auf einem Hüttenabend saß ich in einer ­reinen Männerrunde, und man sollte aus Fisch, Fleisch oder vegetarisch auswählen. Als die Kellnerin im Dirndl kam, sagte einer dieser Männer sehr provokant und aggressiv: "Ich ­wähle natürlich immer die Brust." Die jüngeren guckten auf mich: Wie fasst sie es auf? Lacht sie? Die älteren haben losgeprustet.

Und wie haben Sie es aufgefasst?

Kinnert: Ich habe erst mal gar nichts gesagt. Ich war überfordert. Später habe ich das ein paar Leuten erzählt und auch der Kellnerin gesagt, dass es mir leidtut, geschwiegen zu haben.

Nickels: Da wäre es an den Männern gewesen, den Mund aufzumachen. Nicht witzig, Kollege. Oder so. Gegenwitz raushauen auf Kosten der Männer. Solche Sprüche kennt man von jedem Fest. Mittlerweile sterben diese Männer ja so langsam aus . . .

Kinnert: Ich muss sagen, dass diese klassischen, sexistischen Anmachversuche von anderen Politikern an mir vorbeigegangen sind. Ich trete recht maskulin auf, außer­dem ist bekannt, dass ich lesbisch bin. Aber ich habe ­öfter erlebt, dass ich mit Männern im Kreis stand und die ­etwas Frauenverächtliches oder Sexualisiertes gesagt haben und dachten, weil ich eben lesbisch bin, gehöre ich mit zu ­denen. Sie wollten, dass ich mich mit ihnen über die Kürze eines Rocks lustig mache. Das löste ein widerliches Gefühl in mir aus. Ich habe mich oftmals nur zurück­gezogen, anstatt Dinge lautstark zu reklamieren. In diesen Kreisen wird man auch getestet, wer kommt mit diesem Stall­geruch zurecht, wer nicht.

"Es war nicht mein Lebensplan, die Schwester Rabiata der Politik zu sein. Denn das macht auch einsam" - Christa Nickels

Frau Nickels, wie haben Sie das in den 16 Jahren im Bundes­tag weggesteckt?

Nickels: Ich habe das überhaupt nicht weggesteckt, ich war streitbar. Ich habe mich als Kampfhenne auf den Hof gestellt. Es hatte dann den Effekt, dass sich ganz viele hinter mir verschanzten. Politik hat auch etwas Klandestines. Wenn es in Fraktionssitzungen um verteidigungspolitische Fragen ging, wurden manchmal die Mitarbeitenden rausgeschickt, und man kriegte ganz vertraulich etwas erzählt – einen Geheimnisschlüssel aufs Maul gelegt, um bloß nicht kritisch in die Fraktion oder in die Öffentlichkeit hinein agieren zu können. Ich sagte dann, tut mir leid, Joschka, das habe ich alles gestern schon in der "FAZ" gelesen. Das ist kein Geheimnis, da kann jeder drüber sprechen. Die einen sagten, Mann, Christa, du machst es dir schwer. Die anderen sagten, das traue ich mich nicht. Aber man zahlt den Preis dafür, wenn man nicht mit den Wölfen heult.

Welchen?

Nickels: Na, Frau Kinnert hat das ja schon gesagt, man hat es schwerer mit der Karriereplanung. Mir war das egal, ich war Krankenschwester und bin auch mal für vier Jahre wieder auf die Intensivstation zurückgekehrt. Das hat mir eine große Freiheit gegeben. Es war nicht mein Lebensplan, die Schwester Rabiata der Politik zu sein. Denn das macht auch ein Stück einsam. Über Jahrzehnte habe ich mich gewundert, wie wenig Menschen sich trauen, mit Autoritäten auf Augenhöhe in einen streitbaren Dialog einzutreten.

"Ich will nicht von Seilschaften abhängig sein - oder dass jemand meinen Charakter formt" - Diana Kinnert

Kinnert: Ich wurde mit 17 Jahren Parteimitglied und habe nicht geplant, jemals Berufspolitikerin zu sein. Ich will nicht von Seilschaften abhängig sein. Oder von Wahlen, von Listen, vom Bürgerwillen. Ich will nicht, dass jemand meinen Charakter formt, dass mich jemand konditioniert. In Teilen der baden-württembergischen CDU zum Beispiel bin ich als Projektionsfigur verhasst. Ich weiß genau, die können mir nichts wegnehmen. Ich arbeite lieber im vorpolitischen Raum, schreibe politische Bücher, kommentiere politische Entscheidungen, bereite Gesetzes­entwürfe hinter den Kulissen mit vor, übersetze gesellschafts­politische Themen zwischen Partei und Volk.

Nickels: Ich kann das absolut verstehen. Etwas ganz Wertvolles ist die persönliche Unabhängigkeit, die sollte man sich auch erarbeiten, ehe man in die institutionelle ­"Küche" geht, egal in welche. Ich habe nicht geplant, Abgeordnete zu werden. So wie Sie ein grüner Rabe in der CDU sind, war ich ein schwarzer Rabe bei den Grünen. Mit 28, zwei schulpflichtigen Kindern, verheiratet, katholisch und vom Land. Da gab es bei vielen einen gewissen Schüttelfaktor, wenn ich auftrat. Entscheidend ist, dass viele Menschen einem Rückhalt geben. Selbst wenn man nicht das Wohlwollen der Seilschaften, der Machteliten hat. Dann kann man ein Mandat bekommen, so war das bei mir. Ich hätte Sie so gern im Bundestag auf der CDU-Bank gesehen, Frau Kinnert! Eine Gesellschaft, die nicht vollständig von Gräben aufgerissen, fragmentiert, zerstört ist, braucht in den verschiedenen Lagern Leute, die bei allem Dissens das Verbindende sehen.

Kinnert: Ich höre oft heraus, dass Leute sich für mich eine aktivere Rolle wünschen. Aber ich wollte nicht ­kandidieren und glaube, dass ich mit dem, was ich gerade mache, ­vielleicht sogar den größeren Einfluss in der Partei habe. Weil ich weltanschaulich Dinge mitentwickeln kann. Als Beraterin von Annegret Kramp-Karrenbauer oder von Armin Laschet wäre ich jetzt weg. Ich habe schon gut überlegt, wie ich längstmöglich in dieser Partei ­konstruktiv ­nerven kann. Ich halte mich gar nicht so sehr zurück.

Tim Wegner

Mareike Fallet

Mareike Fallet, Jahrgang 1976, ist Textchefin und Mitglied der Chefredaktion. Sie studierte Sozialwissenschaften in München und Göttingen. Redakteurs-Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Ihr Schwerpunkt sind gesellschaftspolitische Themen, sie betreut die Rubriken "Begegnungen", "Fragen an das Leben" und "Andererseits".
Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".

1984 wurde eine Gruppe von sechs Frauen – Christa Nickels, Waltraud Schoppe, Antje Vollmer, Annemarie Borgmann, Erika Hickel und Heidemarie Dann – zum Fraktionsvorstand der Grünen gewählt. Ein Feminat! Sie haben viele Kämpfe für den Feminismus geführt, das zeigt auch der Film "Die Unbeugsamen", in dem Frau ­Nickels zu Wort kommt.

Kinnert: Dafür bin ich als jüngere Politikerin natürlich sehr dankbar. Aber für mich ist der Film keine Vergangenheit. Es wird immer noch zu unfairen Mitteln gegriffen. Von ­einer Bekannten, die für den Bundestag ­kandidieren wollte, wurden die Telefonnummer und ­Daten zur Kandidatur herum­gegeben. Leute aus der Kreis­partei riefen an, schüchterten ein, es gab Kettenbriefe, dass sie nicht ver­heiratet sei. Bei der Jungen Union gibt es teils sehr ­reaktionäre, chauvinistische Kreise, das ist ein ganz anderes Aggressions­potenzial. In der digitalen Welt erst recht. Diese Tausenden Vergewaltigungs­androhungen per Twitter! Es ist nicht immer besser geworden als ­früher. Es äußert sich sogar manchmal unmittelbarer und aggressiver.

Warum hat es von diesem starken Grünen-Feminat bis zu #MeToo noch mal über 30 Jahre gedauert?

Nickels: 2000 Jahre Patriarchat lassen sich nicht einfach runterspülen wie Staub vom Dach. Die Frauen des Feminats waren stark, weil sie schon viel durchgestanden hatten. Man darf nicht vergessen, wie zerbrochen Frauen sind, wenn sie MeToo-Erfahrung haben. Wenn eine Frau attackiert wird, verbal oder körperlich, braucht sie Kraft, das auszuhalten, ohne auf Dauer zu zerbröseln. Und Glück. Das wird erst besser, wenn es genug Beistandschaft gibt, in den Familien, den Dörfern, im ganzen Land, aber auch bei der neuen Generation von Männern. Von den Frauen, die das selber getroffen hat, dürfen Sie keine Kämpfe ­erwarten, das ist jedes Mal eine Retraumatisierung.

1997 gab es im Bundestag eine Debatte zur Wehrmachtsausstellung von Jan Philipp Reemtsma. Sie hielten eine mutige, spontane Rede, Frau Nickels, erzählten von ­Ihrem Vater und seiner Kriegserfahrung . . .

Nickels: Ich wollte unbedingt auf Herrn Dregger reagieren, der die Wehrmachtsausstellung als Nest­beschmutzung niedermachte. Dabei ging es um eine ganze Generation von Männern, die in den Krieg gezogen oder ge­zwungen und damit Teil der entsetzlichen Vernichtungs­maschinerie des Hitlerregimes geworden waren. Aber davon auch selbst traumatisiert. Die ganze Gesellschaft hat das totgeschwiegen. Aber diese urmenschliche Erfahrung von Schuld, Leid und Schmerz muss ehrlich angeschaut und be­arbeitet werden. Meine Worte sind durchgedrungen: Manche ­Kollegen haben geweint, und Herr Dregger sagte: "Frau Nickels, ich werde im Lichte dessen, was Sie gesagt haben, noch mal drüber nachdenken." Worte sind wirkmächtig. Im Guten wie im Bösen.

Haben Sie ein Wort, eine Bibelstelle, die Sie trägt?

Nickels: Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Ich habe die alte zerfledderte Bibel auf dem Nachttisch liegen . . .

Kinnert: Lange nicht mehr reingeguckt. Was ich immer wieder schön finde: Dass wir wie die Kinder sein sollen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit. Man darf dem Menschen ganz viel zutrauen!

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Ein sehr langer Text. Ist ein kurzes Fazit erlaubt?
Die so hoch gelobte Selbstverwirklichung hat auch ihre Schatten. Wenn das EGO über die Gemeinschaft gestellt wird, muss auf Dauer der Einzelne einsam werden. Wenn die Freiheit vordringlich als ein individuelles Recht verstanden wird, besteht die Gefahr, dass sie zum Unrecht für die Gesellschaft wird. Die hemmungslose anonyme Freiheit der freien Meinung wird zum sich selbst treffenden Bumerang. Ein Suizid der Freiheit aus sich selbst. Und wenn die Teilnahme an der Gesellschaft zum Opfer der Individualisierung wird, hat man ein ähnliches Ergebnis. Nur individuelle Stärken im Dienst der Gesellschaft können die Einsamkeit mindern.

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" Der Begriff Einsamkeit bezeichnet im Sprachgebrauch der Gegenwart vor allem eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen. Es handelt sich dabei um das subjektive Gefühl, dass die vorhandenen sozialen Beziehungen und Kontakte nicht die gewünschte Qualität haben. " ( Wiki )

Ich finde das sehr gut auf die Gegenwart bezogen, wobei das subjektive Empfinden eben nicht verallgemeinerbar ist.
Menschen, die im Alter einsam sind, schuldet die Gesellschaft Achtung, Respekt, Würde.
Egal, wer sie sind, oder wer sie waren.
Ein 94 Jähriger emeritierter Papst, der wegen Fehlhaltung in früheren Jahren beschuldigt wird, oder eine alte ehemalige Sekräterin, die vor Gericht gezerrt wird , weil sie, als Sekräterin ( !!! ) Morde der Nazis nicht verhindert hat ( ! ) , sind Zeugnisse stärkster HEUCHELEI einer korrupten Gesellschaft.
Aber Menschen lassen sich auf dieser Basis steuern und beeinflussen, weil sie im Grunde soziale Wesen sind, die auch ihre Individualität unterdrücken können, wenn es sein muss. Sie helfen einander.
Aber sie töten auch, wenn man es ihnen plausibel macht, und zwar, um zu überleben.

Auch Putin nutzt die Pandemiekrise, um seinen Machtdurst zu stillen.
Ich habe kein Verständndis für eine Politik, oder Politikerinnen, die sich mit den eigenen Gefühlen mehr beschäftigen, als mit der Poltitk selbst.

.. ob der Kardinal etwas gewusst hat nur weil er dabei war. Es ist in höheren "Ebenen" absolut üblich, unaufmerksam zu sein (Handyspiele und Aktenstudium) und die Tagesordnung zu "schwenzen". Pech für den, der später als Wissender gesucht wird. Anzuklagen ist in erster Linie die Hierarchie, die das Unrecht zur Führung der Gläubigen verwaltet hat. Jetzt die damals 17Jährige vor Gericht zu schleppen , hat den gleichen Wert. Da gab es riesige unabhängige und noch heute bestehende "unpolitische" Verwaltungsstrukturen, die alles gewusst und geschwiegen haben. 1933 war ein böses Jahr.

Die junge Sekretärin war es nicht. Der LKW-Fahrer, der das Zyklon-B brachte, war es auch nicht. Derjenige, der es durch die Deckenöffnung schmiss, tat auch nur, was ihm befohlen. Der Lagerleiter gehorchte auch nur den Befehlen. Und der Adolf selber hat nachweislich nie ein KZ besucht.

Kein Wunder, dass alle nach und neben den Nazis existierenden Herrschaften ihre teils geächteten, teils geleugneten, teils für völlig normal erachteten Leichenberge (wirtschaftliche Vernunft und so) ziemlich ungehindert aufhäufen konnten und heute tagtäglich können.

Fritz Kurz

Antwort auf von Fritz Kurz (nicht registriert)

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Das einzige Wort, was mir nicht gefällt. Aber was ist tagtäglich mit, bzw. von denen, die bei allen Unfällen, Missbräuchen und Mißhandlungen sprach- und tatenlos zusehen? Der Wilderer war bekannt und die Jäger haben ihn nicht gejagt. Standesschutz. Hitler war der Wilderer. Alle sollten wissen, was alle wußten. Halbherzig haben Rom und alle andere "Brüder" protestiert. Die wenigen Märtyrer werden als Alibi vereinnamt. Die Kanzeln in ganz Europa und in den USA waren verweist , werte- und würdelos. Keiner war dabei, und alle haben zugesehen. Sie waren ja auch in bester Gesellschaft. Bis auf wenige erfolglose Ausnahmen haben ja auch alle Eliten versagt. Elitär im Anspruch und feige in der Verantwortung. Die "Einfache" 17Jährige in Itzehoe auf die Bank, und alle elitären Duckmäuser in der Versenkung. Nur der Zahltag lässt sie sehen.

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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Klar, Unfälle, Misshandlungen und sogenannte Missbräuche geschehen auch tagtäglich. Ich wollte etwas anderes andeuten:

Worauf gründen Amis, Franzosen, Italiener, Russen usw. ihren Nationalstolz? Auf geschichtliche Großtaten, die sie sich zurechnen. Wie läuft das in der BRD? Ziemlich anders. Es ist ja auch einigermaßen schwierig, auf einen ausgelösten und verlorenen Weltkrieg mit zig Millionen Toten und auf die Ermordung der europäischen Juden auch noch stolz zu sein. Aber der Nationalstolz muss auf jeden Fall her. Der Trick geht so:

Die BRD ist deswegen eine über alle Maßen großartige Veranstaltung, weil sie sich so einwandfrei vom Nationalsozialismus distanziert hat. Sie bringt tatsächlich nicht systematisch Juden, Homosexuelle und Kommunisten um. Und schon darauf ist sie ganz irre stolz. Niemand langt sich an den Kopf, worauf man offenbar schon alles stolz sein kann.

Da wollte ich auf Zustände hinweisen, die überhaupt kein Geheimnis sind. Nur ein kleines Beispiel, es gibt sehr viele von dieser Art: Alle paar Minuten stirbt ein Kind auf der Welt an trivialen Krankheiten, weil die Eltern auch nicht die wenigen Cents haben, um einfachste Medikamente kaufen zu können. Selbstverständlich nicht in der BRD, sondern in anderen Weltgegenden. Die Verhältnisse dort sind aber nicht vom Himmel gefallen. Sie sind der weltweit siegreichen Marktwirtschaft geschuldet. Und an deren Siegeszug hat die BRD ganz wesentlich mitgewirkt.

Hohe Leichenberge sind also keine Spezialität des Faschismus. Damals haben nicht nur die Eliten, sondern auch die Arbeiterschaft den Adolf ziemlich gut gefunden. Er versprach gute Führung und darauf war die Mannschaft scharf.

Und heute: Vom Adolf haben sich die lieben Zeitgenossen distanziert. Nach guter Führung lechzen sie aber unverdrossen weiter. Sie dürfen sogar alle 5 Jahre neu auswählen, wer sie führen soll. Und sie werden geführt. Und die Leichenberge wachsen wieder. Andere Leichen, aber nicht weniger tot.

Ich rate davon ab, sich das zu verfabeln als menschliche Schwächen, gegen die kein Kraut gewachsen sei. Nein, das sind Fehler, die zu kritisieren sind.

Fritz Kurz

Eine Fabel ist was anderes. Es ist kein KUNSTSTÜCK, gegen alles zu sein, was nicht den eigenen Haarwurzeln entwachsen ist. Mir ist noch nie ein ernsthafter Geist begegnet, der nicht Fehler kritisiert. Wegen Fehler aufgrund menschlicher Schwächen gibt es Gesetze.

Gesetze gibt es, damit die von menschlicher Schwäche geschlagenen Menschlein mit Hilfe von Geld-, Gefängnis- und Todesstrafen auf die Spur gebracht werden? Nein, vom Glauben an diese Fabel rate ich ab. Gesetze gibt es, damit die Mannschaft genau das macht, was für sie vorgesehen ist: Steuern zahlen, beim Barras antreten, an den erwünschten Stellen Hurra und Pfui schreien. Also fleißig sein, sich bescheiden, für fremde Interessen und höhere Zwecke zur Verfügung stehen und das Ganze noch großartig finden.

Wenn es stimmen sollte, dass "der Mensch" "dem Menschen" ein Wolf sei, dann kann die Einsetzung von Oberwölfen namens Staat nur noch als vorsätzlicher Sadismus bezeichnet werden.

Fritz Kurz

Da kommt ein Verdacht auf. So und ähnlich wird angeblich auch von Reichsbürger argumentiert. Wort und Schrift verraten Gedanken.

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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Reichsbürger sind genau so glühende Anhänger staatlicher Gewalt wie es die anständigen Normalbürger sind. Die Reichsbürger sind der Meinung, die BRD sei nicht befugt, diese staatliche Gewalt auszuüben. Die Reichsbürger hätten gerne das verflossene Deutsche Reich zurück, daher ihr Name. Der Normalbürger hingegen hält die BRD für genau die richtige Adresse, Staatsgewalt auszuüben.

Wenn Sie meinen Beitrag vielleicht noch einmal lesen, wird Ihnen auffallen, dass ich weder der einen noch der anderen Position das Wort geredet habe.

Fritz Kurz

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Es gibt die, die andere nicht kennen wollten, alle Kontakte vermieden, solange sie sich noch als total unabhängig glaubten. Die werden es immer schwer haben. Traurig für die, die vorher ihre ganze Zeit anderen geschenkt haben. Viele Ehrenamtliche wurden so zum Opfer der Gleichgültigkeit ihrer ehemaligen "Vereins-Pflegekinder". Aus dem Leben aus dem Sinn. Aus der Arbeit in das Abseits. So ist es nun mal, weil das Leben (der Anderen) weitergeht. Die damals 17Jährige war mit ihrem Wissen und Gewissen allein und einsam. Auch wenn sie das erst sehr viel später hat ermessen können. Da die christlichen Werte mit dem Konkordat verkauft waren, kam auch von dort weder Mahnung noch Hilfe. Wer mit Gesetzen gemessen wird, die er nicht wissen sollte, ist jedem Gesetz ausgeliefert.

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