"Die Einschläge kommen näher"
Alexandra Lechner/plainpicture (Symbolfoto)
"Die Einschläge kommen näher"
Blutrünstiger Fernsehkrimi? Verschwendete Lebenszeit. Der pensionierte Gymnasialleiter und Autor Kurt Schreiner über Gedanken, die einen Mann jenseits der 80 befallen.
Kurt SchreinerPrivat
12.01.2022

Eigentlich geht all das viel zu schnell. An den Sechzigsten erinnern sich alle um dich herum noch gut. Der Siebzigste ist gar nicht lange her. Und den Fünfundsiebzigsten hast du nicht groß gefeiert, weil du für den Achtzigsten sparen musstest.

Kurt SchreinerPrivat

Kurt Schreiner

Kurt Schreiner, Jahrgang 1940, leitete von 1986 bis zu seiner Pensionierung 2004 ein Gymnasium in Öhringen in Baden-Württemberg.

Du willst es lange nicht wahrhaben. Dann begreifst du doch, dass sich mit dir etwas verändert hat: Der Weg in die Stadt wird immer weiter, fast beschwerlich. Am Stammtisch musst du die Hand ans Ohr legen, um deinen Freund Thomas gegenüber zu verstehen.

Der Arzt hat dir – dringend – blutdrucksenkende Medikamente verschrieben. Nun sitzt du zwei Mal am Tag da, sortierst und halbierst Tabletten, schluckst das lästige Zeug mit einem halben Glas Wasser hinunter und stellst die immer häufiger werdende Frage: "Warum?"

"Wie es auf Bermuda aussieht, erfährst du aus dem Fernsehen"

Vom Tod deines Arbeitskollegen Sigmund Kammerer erfährst du morgens beim Frühstücksei aus der Zeitung. Zwei Wochen später ruft Pia an und berichtet unter Tränen, dass ihre Mama, deine ehemalige Klassenkameradin, überraschend gestorben sei, Hirnblutung. Bürgermeister Ludewig, ein jahrzehntelanger Freund, bricht bei der Eröffnung der Kleintierschau im Vereinsheim plötzlich ­zusammen und ist tot, als der Notarzt neun Minuten später eintrifft. Herzinfarkt.

Nun ja, die Einschläge kommen näher. ­Eine alte Artilleristenweisheit. Aber du lebst ja. Und eigentlich geht es dir gar nicht schlecht. Die Pension reicht gut. Es müssen ja auch nicht jeden Tag Spargel oder Wiener Schnitzel auf dem Tisch sein.

Und was den Urlaub angeht, werden ohnehin kleinere Brötchen gebacken. Wie es auf Bermuda aussieht, erfährst du aus dem Fernsehen. In die Antarktis wagen sich nur sportliche und kerngesunde Abenteurer. Mallorca ist längst abgeschrieben, auch wenn du von der romantischen Eisenbahn zwischen Palma und Sóller und von der Kartause Valldemossa träumst, in der Frédéric Chopin und George Sand einen Winter verbrachten.

Nachdenklich warst du schon immer. Da ging’s um Alltagsfragen, die Kinder, einige unleidige Kollegen und immer wieder auch um Politik. Nun stehst du im Mittelpunkt. Vielleicht beneidest du andere Menschen um ihre "Wurschtigkeit", Menschen, die sich nicht vom Morgen bis zum Abend, in schlaflosen Nächten das Hirn zermartern: "Mein Leben liegt in Gottes Hand. Wovor soll ich mich fürchten . . ." Oder: "Ist ja eh alles egal. Wenn mich morgen der Schlag rührt, dann hab ich endlich meine Ruhe . . ."

"Cousine ­Gertrud und Neffe Tom würden ohnehin nicht auf der Beerdigung erscheinen"

Früh hast du gelernt, mit Zahlen umzugehen, und nun drängt sich die Frage auf, wie viele Jahre dir noch bleiben. Mit achtzig ergibt sich ein düsteres Bild. Wer sich noch fünfundzwanzig Jahre zubilligt, ist ein Hochstapler. Fünfzehn Jahre? Ausgeschlossen ist das nicht, wenn nicht etwas dazwischenkommt, eine schleichende Demenz oder Alzheimer? Zehn Jahre? Nun ja, wenn man sich anstrengt, jeden Tag seine Muskulatur trainiert, wenig Fleisch isst, auf das gewohnte Viertel Wein verzichtet.

Du kramst in alten Akten, liest noch einmal Zeitungsausschnitte und Todesanzeigen, die bereits uralt sind. Von deiner Mutter heißt es da: "Ihr Leben war Mühe und Arbeit." Und dann nimmst du ein Blatt Papier zur Hand und beginnst, einen Text zu formulieren, der sich auf dich, auf dein Leben und deinen eigenen Tod bezieht. "Im Alter von . . . Jahren starb mein geliebter Mann, unser Vater und Großvater . . ." Müssen die Leute eigentlich wissen, ob er Schlossermeister oder Lohnbuchhalter, Architekt oder Oberstudiendirektor war?

An einem anderen Tag brütest du über der Liste, in der Anschriften und Telefonnummern von Verwandten, Freunden und Bekannten ­notiert sind. Viel zu wirr und viel zu un­ordentlich. Es müsste sich einer mal zwei ­Stunden Zeit nehmen, um das auf den ­neuesten Stand zu bringen. Die Cousine ­Gertrud und der Neffe Tom sind schnell gestrichen. Sie würden aus gutem Grund ohnehin nicht auf der Beerdigung erscheinen.

Wie geht es mit denen, die als Trauernde unter der Benachrichtigung stehen, mit ­Tochter und Sohn, Schwester und Bruder, den Enkelkindern Felix und Nelli, die gerade mal vier und zwei Jahre alt sind? Auch sie müssen sich eines fernen Tages aus dem Leben verabschieden. "Wir sind nur Gast auf Erden." Eigentlich bist du gar nicht so fromm, zahlst treu und brav deine Kirchensteuer und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Aber der Vers aus dem Kirchenlied geht dir nicht mehr aus dem Kopf.

"Die Papierleuchte hat der Enkel Felix im Kindergarten gebastelt"

Dass deine Schwester Amalie stirbt, die ­immer so gesund gelebt hat, trifft dich schwer. Immerhin, sie ist 82 geworden. Drei Wochen später wird fast zufällig nach einer Blutab­nahme beim Arzt ein Prostatakarzinom festgestellt. An diesem Abend bist du sicher, dass du das nächste halbe Jahr nicht überleben wirst. Wie ein Traumwandler gehst du von einem Zimmer zum anderen und betrachtest die unzählig vielen Dinge, denen du kaum je Aufmerksamkeit geschenkt hattest. Die kostbare Blumenvase war ein Geschenk deiner Mutter zur Silberhochzeit. Das Aquarell an der Wand zeigt das windschiefe romantische Häuschen der Schwiegereltern. Die aus Papier und Kleis­ter zusammengefügte Leuchte hat der Enkel Felix im Kindergarten gebastelt. Mit seiner kleinen Hand hat er ein buntes Muster aufs Papier gedruckt.

Was wird aus den Kindern und Enkeln, aus dem Haus, das ihr euch, du und deine Frau, vom Munde abgespart und gestaltet habt, was mit den Fotos, Büchern, dem Hausrat, der am Ende nur noch für Flohmärk­te taugt? Der Tintenfüller mit der Goldfeder ist längst aus der Mode gekommen. Und der kleine Elefant aus goldglänzendem Messing, den dir dein Onkel 1945 in karger Zeit geschenkt hat und den du jeden Tag liebevoll auf deinem Schreibtisch anschaust, taugt gerade für das Spiel­zimmer der Enkel, in dem sich Autowaschanlagen und Parkhäuser, riesige Stofflöwen und überlebensgroße Schildkröten tummeln.

"Hat sich der PSA-Wert verbessert oder doch wieder verschlechtert?"

Die Tage vergehen, jeder Einzelne ­schmälert deine Bilanz. Morgens erst um acht aufzustehen, sich einen Mittagsschlaf zu gönnen oder einen langweiligen, vielleicht sogar blutrüns­tigen Krimi im Fernsehen ­anzu­schauen, ist verschwendete Lebenszeit. Gleichzeitig fieberst du von Monat zu Monat dem nächsten Arztbesuch zu. Hat sich der PSA-Wert, ein Indiz für deine Prostataerkrankung, verbessert oder doch wieder verschlechtert?
Der Schicksalsschlag, der dich ins Mark getroffen hat: Nach fast 53 Jahren dauernder Ehe stirbt deine Frau nach kurzer ­schwerer Krankheit. Du nimmst Abschied und sagst dir ein ums andere Mal unter Tränen: ­ "Du kommst nicht mehr wieder." Aber so recht glauben kannst du es nicht. Wenige ­Tage nach ihrem Tod schreibst du ein ­Gedicht. ­Seine letzte Zeile lautet: "Wann werden wir uns wiedersehn?"

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Liebe chrismon-Redakteure,
wieder eine sehr gelungene Ausgabe, besonders das Interview mit Gerhard Schlink, auf gute Weise radikal die Aussagen von Pfarrerin El-Manhy, "Schwester Henne" wird mein Einkaufsverhalten verändern... und vieles mehr.
Sehr nachdenklich gemacht haben mich Kurt Schreiners Gedanken zum Alt-Werden. Ich bin erst 72 Jahre alt, aber viele seiner Gedanken gingen mir auch schon durch den Kopf. Ja, auch ich möchte einmal ein "aufgeräumtes Haus" hinterlassen. Hätte es gerne, wenn z.B. meine Fotoalben (bisher fast 2m) aufgehoben würden. Sicher nicht realistisch!...
Aber was ist mit den Schulden (hoffentlich nicht finanzieller Art!), mit den ungeklärten Defiziten? Was ist mit der Frau, die ich verließ, um mit einer jüngeren, die mir attraktiver erschien, zu leben? (Was nicht geklappt hat... Dennoch bereue ich die Trennung nicht.) Was ist mit dem Sohn, dem ich zu wenig Zuwendung und Zuneigung und zu viel Distanz und Ablehnung entgegengebracht habe - und der das Gespräch darüber nicht mit mir führen will? - Wie kann Mann solche Schulden begleichen? - "Der Vorhang zu und alle Fragen offen." (Brecht)?

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So ist es. Bei Krankheit ist das Leben im Endspurt. Wenn gesund, muss nur die Schaltung reguliert werden. Ist man fit, glaubt man an sich und hat noch Pläne Wenn die nicht mehr sind, obwohl man sie haben könnte, glimmt nur noch das Feuer. Wie könnte man diesen Zwängen widerstehen ?. Zuerst Realist werden und die Fotoalben vernichten, denn die Erinnerungen können traurig machen. Dann die geglaubte eigene Bedeutung runterschrauben. Auch die Bedeutung für die ganze Welt reduzieren. Jeden einzelnen Tag genießen und die Zunft als Überraschung erwarten. Wenn man wirklich etwas verändern will und muss, muss man damit sofort beginnen . In dieser Minute noch 10 X Gymnastik. Mit den Händen beginnen. Mit den Beinen fortsetzen. In jeder Stunde nur 5 Minuten. Das Leben sollte es Wert sein. Wer Morgen sagt, hat schon verloren. Der Schreiber hat leicht reden, und der innere "Schweinehund" hat scharfe Zähne. Wer sich selbst aufgibt, dem rennt die Zeit davon. Dass wird zwar unausweichlich sein, aber bitte nicht, solange meine Kraft zum Überleben noch stark genug ist. Zugegeben, hohe Ansprüche und schöne Reden sind erhabene Ansichten. Aber immer noch, auch wenn sie eine Illusion sein sollten, besser als verzweifelt dahindämmern. So kann auch der Selbstbetrug zu einer wohltuenden "Wahrheit" werden.

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Ja, wenn wir von möglichst allen wettbewerbsbedingten Illusionen in/zu materialistischer "Absicherung" befreit leben/glauben würden, wenn wir uns wenigstens ziemlich sicher sein könnten, dass das Leben nicht nur eine Sinnhaftigkeit von (vielleicht) zufälliger Einmaligkeit hat, dann würde vor allem niemand auf die Idee kommen solch einen doch sehr (...) Kommentar zu schreiben, Herr Schreiner

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