Seid kompliziert! Alles andere wäre zu einfach
Frauen sind angeblich kompliziert. Dabei ist schlicht das ganze Leben im Moment - alles andere als einfach.
Tim Wegner
31.12.2021

Seit ich selber Kinder großge­zogen habe, schwor ich mir: Nie den Erziehungs­stil von wildfremden Müttern oder Vätern schlau­meierisch verbessern. Eines meiner Kinder war ein Schreikind, und ich hätte alle Passanten erwürgen können, die wahlweise sagten (ich lebe in Köln): "Dat hat kalt." Oder: "Dat hat zu warm." Aber meinen Teil denken, das schon. Und so musste ich neulich grinsen, als ich hinter Mutter, Kind, Laterne herlief, die Mutter sichtlich entnervt. Das Kind knipste ständig die Laterne an und aus, und die Mutter blaffte es an: "Sei doch nicht so kompliziert!"

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".

Sei nicht kompliziert! Das ist eine paradoxe Anweisung, ähnlich bescheuert wie "­Entspann dich!" oder "Chill mal!". Selbst wenn man wollte – man kann sich nicht auf Knopfdruck versimpeln. Weil das Kompliziert­sein ähnlich wie das Gestresstsein nicht von dem Hirnareal gesteuert wird, an das wir so einfach rankommen. Und weil nicht nur der Mensch kompliziert ist, sondern das Leben an sich.

Es ist kompliziert, sich selbst und seine Liebsten in diesen verrückten Zeiten auszuhalten, die Nähe im Homeoffice, die Sorgen um die Gesundheit, die Ungeduld der Kinder, die Unzufriedenheit mit den Regierenden, ach, wo anfangen und wo aufhören. "Es ist kompliziert" kann man bei Face­book als Beziehungs­status angeben, es ist quasi ­alles, was nicht in die Kategorien "single, ver­heiratet, geschieden" passt. Oder in Kindersprache: alles zwischen Licht an und Licht aus. Zwischen zu warm angezogen und zu kalt. So ist das Leben.

Es war ein schwieriges Jahr

Wir bei chrismon mögen ja das Komplizierte. Wir lassen Autorinnen ­schreiben, ­warum sie Antirassismus wichtig ­finden, aber nicht den mit Denkverboten. Wie man in einem industriellen Legehennenbetrieb arbeiten und trotzdem ein Herz für Hühner haben kann. Und der kluge Schriftsteller Bernhard Schlink sinniert im Interview, warum die Westdeutschen immer noch finden, die Ostdeutschen seien "schwierig".

Es war ein schwieriges Jahr, auch für uns. Wir hatten einen Anzeigenrückgang wie ­alle Medien, es kostete Kraft, unser verstreutes Team zusammenzuhalten, und kaum zeich­nete sich so was wie Normalität ab, ­schossen die Papierpreise empfindlich nach oben. ­Deshalb werden wir einige Ausgaben mit weniger Seiten produzieren. Aber ich verspreche Ihnen fürs neue Jahr: Wir werden uns nicht zurücklehnen und chillen. Wir bleiben empfindlich und – wenn es sein muss – kompliziert. Heiß und kalt und alles da­zwischen. Bleiben Sie es auch!

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Guten Tag Frau Ott,
ich lese als Bezieher der ZEIT regelmäßig Ihr Heft „Chrimon“. Sehr gut und vor allem mit Herz gemacht, immer eine Freude, es zu lesen.
Gerade die Berichte, die Mut machen, Dinge in die Hand zu nehmen, interessieren mich besonders.
Grund: das eigene Schicksal, mit 40 die Frau zu verlieren (1993) und mit drei Kindern von 3,6 und 9 Jahren vor
einem scheinbaren Nichts zu stehen.
Irgendwie haben wir es in den Jahren danach geschafft, weil Aufgeben mit drei Kindern keine Alternative war.
Die notwendige Trauerarbeit kam dabei viel zu kurz, auch weil ich zusätzlich in diesen Jahren beruflich stark eingebunden war.
Vielleicht war es auch meine Art, mich nicht mit dem Unveränderbaren näher zu beschäftigen, weil es zu schmerzhaft war.

Mit 66 habe ich mich dann auf eine Reise begeben. Mit Zügen, Bussen, PKW und Containerschiffen 138 Tage unterwegs, um mich
wieder zu finden unter einer dicken Schicht von stressigen, traurigen und halbwegs glücklichen Zeiten. Der Weg war das Ziel und
nach meiner Rückkehr habe ich wieder gespürt, wer ich bin und was ich im 3. Lebensabschnitt noch möchte und vor allem,
was ich nicht mehr möchte. Seit März 2018 führe ich tatsächlich ein anderes und innerlich „freieres“ Leben.

Auf der Reise habe ich ein Tagebuch geführt mit vielen Anekdoten, traurigen und humorvollen Geschichten und Wissenswertem zu den Ländern und zu den Transportmitteln.
Dies kontinuierlich Tag für Tag, um meine persönliche Entwicklung später nachzuverfolgen. Während der insgesamt 58 Tagen Schiffsaufenthalt habe ich die Texte dann ausformuliert. Nachdem Freunde und Kinder das Tagebuch
gelesen hatten, haben sie mir empfohlen, die 138 Tage unverfälscht und authentisch als Buch heraus zu bringen.
Im Dezember 2021 war es soweit. Mein Buch „Ahoi 66“ war im Buchhandel erhältlich und ich war mir plötzlich nicht mehr sicher,
ob das richtig war. Erst die eintreffenden positiven Rückmeldungen haben mich wieder beruhigt. JA, es war richtig.
Infos dazu unter dem Verlag: https://www.seitenweise-verlag.de/buecher/ahoi66.php

Vielleicht passt das Thema mal in Ihr Heft. Ich hab lange überlegt, ob ich Ihnen schreiben soll. Aber Ihre offene und herzliche
Art in Ihrer „ Ansage“ hat mich dann doch ermuntert, es zu tun.

Ich wünsche Ihnen ein gesundes neues Jahr und viele weitere Folgen Ihres Heftes.

Mit freundlichem Gruß aus dem Schwarzwald

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Liebe Frau Ott,
seit Jahren lese ich Chrismon und auch Ihre Artikel.
Ich bin wie viele begeistert von dem Magazin.
Ihre Beiträge werden immer besser. Ich finde Sie toll.

Mit mir haben Sie es mit einer Frau von 83 Jahren zu tun.
Auch das aktuelle Heft habe ich durchgestöbert. Nur den
Artikel mit den Hühnern, der sicher ganz prima ist,
umgehe ich immer wieder.
Es tut mir so leid für die Tiere, die in meiner Kindheit meine
Begleiter waren. Wir hatten so viel Staunen und Freude als
Kinder, wenn ein Huhn kluckte und dann ein Nest mit einigen
Eiern bestieg und wir nach der Brutzeit ihre kleinen Federknäulchen,
im für sie gezimmerten Drahtgehege, beobachten konnten.
Noch heute sammle ich Hühnerbilder und hänge
sie in meiner Küche auf.
Gott sei Dank wohne ich auf einem Dorf im Westerwald, wo in dem
Nachbardorf ein ganz junger Bauer ist, Hobbybauer war er zu Anfang,
auf dessen Hof Hühner frei herumlaufen dürfen. Zwar hatten sie seit Herbst
eine Weile Stallpflicht wegen einer Krankheit, die umging. Aber jetzt
gehen sie wieder raus.
„Man fühlt sich geehrt als Mensch, wenn ein Huhn Kontakt zu einem
aufnimmt“ so las ich einen Satz in dem Chrismon-Artikel.
Mir kamen immer die Tränen, wenn ich den Artikel wieder aufschlug.
Doch jetzt, nachdem ich das hier geschrieben habe, werde ich mich
trauen, ihn zu lesen. Es ist ja von sehr viel Herzenswärme der
Personen zu lesen, die sich um die Hühner kümmern.
Nun habe ich mein Herz ausgeschüttet und will nicht feige sein.
Ganz herzliche Grüße an Sie von Gisela Hübsch aus dem WW.

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Liebe Redaktion,
ich lese Chrismon immer wieder gerne und habe mich in der aktuellen Ausgabe besonders an der "Ansage" von Ursula Ott und dem Essay von Canan Topcu gefreut.
Den einleitende Gedankengang der Chefredakteurin zum kompliziert-Sein finde ich brillant! Wie er sich aufhängt an einer aufgeschnappten Elternanweisung ist nicht nur genau beobachtet sondern auch wirklich ein typischer Kristallisationspunkt des Fühlens in Pandemiezeiten.
Wunderschön, wie sich daraus dann das gedankliche Konzept des Heftes entfaltet.

Der Essay von Frau Topcu hat mich in seiner emphatischen Differenziertheit sehr berührt, zumal ich eine ähnliche Schlüsselszene aus meiner Kindheit erinnere: ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen und als 13jähriger in den Harz exportiert worden, wo ich anfangs ständigen Hänseleien wegen meines Berliner Dialektes ausgesetzt war.
Nach einer besonders schmerzhaften Abwertung habe auch ich einem Klassenkameraden mal eine geknallt, trotzdem aber allmählich den Dialekt abgelegt (wenn ich in Berlin bin, ist er ganz schnell wieder da).
Natürlich wohl nicht vergleichbar einschneidend wie die Diskriminierungserfahrungen von Frau Topcu, aber im Kern doch ähnlich.
In jedem Fall bewundernswert, welche Schlüsse die Autorin daraus gezogen hat und was sie grad zur gegenwärtigen Situation auch an wesentlichen Erfahrungen formuliert: die Diskriminierungserfahrungen als Identitätsmerkmal spielen ja wohl auch in der Impfdiskussion, insbesondere vor dem Hintergrund des Mauerfalls und seiner Folgen für die beigetretenen Deutschen eine wichtige Rolle. An gegenseitiger Wertschätzung und Gelassenheit hat es in den letzten 40 Jahren in den Begegnungen zwischen West und Ost sicher häufig gefehlt.

Vielen Dank und herzliche Grüße von Jan Blaß

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