"Seid ihr die Neuen auf Krautsand?"
"Seid ihr die Neuen auf Krautsand?"
Roman Pawlowski
"Seid ihr die Neuen auf Krautsand?"
Das Landleben ist auch nicht mehr das, was es mal war. Weniger Kühe, weniger Kinder, mehr Hunde, besseres Internet und viel mehr Gänse. Soll keiner sagen, die Zeit sei stehengeblieben auf der Elbinsel.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
22.06.2021

Es gibt Briefkastenverhältnisse und Küchenverhältnisse, sagt Manfred Mahler. Er hatte mehr von der zweiten Sorte. Der Briefträger, kürzlich ­pensioniert, kam einfach rein, während die Bauersfamilie am Esstisch saß, "moin!", legte die Briefe aufs ­Buffet, kurzer Schnack und dann ­weiter, nächste Küche. Alles vor Corona, ­natürlich.

Die Küche von Lisa Mau war ihm die liebste. Gleich bei seiner ersten Tour auf Krautsand, vor 30 Jahren, hatte sie ihm erklärt, wie das hier läuft. "Du musst fünf Minuten mit mir reden, sonst kannst du gleich weg­bleiben." Manni Mahler hat sich all die Jahre dran gehalten. "Lisa lebt schon lange nicht mehr", sagt er, überhaupt hat sich viel getan auf der Insel, davon kann niemand so gut erzählen wie der alte Postbote. Auf Krautsand, wo er so um die 150 Haushalte versorgte, hat man ihm einen fulminanten Abschied bereitet, mit Reden, Geschenken, einem Filmchen und endlich auch mal einem Gläschen Schnaps. Den er im Dienst sonst immer, aber auch wirklich immer zurückgewiesen hatte.

Manfred Mahler (links) war 30 Jahre Postbote auf der Insel, die gar keine richtige Insel mehr ist, seit Ende der siebziger Jahre der Deich gebaut wurde. "Manni" kennt hier jeden. Thessa Laurus (rechts) arbeitet für ein Hamburger Unternehmen, das Onlineshops einrichtet und betreut. Kann man gut im Home office machen

Mahlers letzte Stationen lagen an der Süderstraße, da wohnt Thessa Laurus. "Manni, der Sonnenschein!", ruft sie jetzt, wenn man sie nach ihm fragt. Thessa Laurus kommt ­gerade zurück von einem ihrer l­­angen ­Gänge über die Insel. "Ich bin ein Naturkind", sagt Thessa, "ich brauch’ eigentlich keine Stadt." Sie ist erst seit 2018 Insulanerin, seit sie sich mit ihrem Mann Eike, aus alteingesessener Familie, ein Haus gekauft und renoviert hat. Nicht im Dorfkern, sondern etwas außerhalb, wo sie ungestört ihren Garten beackern können. Wenn sie mal Zeit haben. Eike arbeitet als Elektroniker bei einem Industrieunternehmen zehn Kilometer entfernt. Thessa, 28, ist Projektmanagerin bei einer Agentur in Hamburg. Theoretisch hat sie ein klimatisiertes Büro mit Alsterblick, praktisch schlägt sie ihren Laptop zu Hause auf, Angebote und Rechnungen schreiben, Kundenkontakt halten. Um 16 Uhr wird der Laptop wieder zugeklappt, die ­zweite Schicht findet im Garten statt, mit ­Eike, Schaufel und Schredder.

Corona hat die Stadt verändert. Aber die Zeit ist auch auf dem Land nicht stehengeblieben

Krautsand – das sind 18 Quadratkilometer Wiesen, von wenigen Zäunen und vielen Gräben durchzogen, ein hoher Deich, die Elbe. Am Wochenende steuert Thessa manchmal die Holzbrücke über die Süderelbe an, das schmale Flüsschen trennt die Insel vom Festland, dort läuft sie weiter ins Moor, 20 oder 25 Kilometer. Wir sind in der Kehdinger Marsch, westlich von Stade, auf halbem Weg zwischen Hamburg und Cuxhaven. Kopfweiden und Eschen säumen die asphaltierten Feldwege, hin und wieder sieht man Vieh weiden, Störche und Möwen ­suchen nach Nahrung, abends sammeln sich Scharen von Krähen im Pappelwäldchen, und Thessas ­junger Hund Bounti kann schreckhafte Fasanen aus den Büschen scheuchen.

Corona hat die Welt verändert, vor allem die Stadt. Aber die Zeit ist auch auf dem Land nicht stehengeblieben, und vielleicht hat das Land, zumindest auf kurze Sicht, gewonnen. Es hat Arbeitsplätze gewonnen, die keiner zählen kann, weil sie, wie bei Thessa, in einer Ecke des Schlafzimmers eingerichtet sind. Es hat Lebensqualität gewonnen, vergleichsweise, denn Kino, Theater, Shoppen, Essengehen, das gab’s ja fast ein Jahr lang auch in Stade und Hamburg quasi nicht mehr.

Thessas Thema ist E-Commerce. Ihre Firma richtet Onlineshops ein und betreut sie, perfekt fürs Homeoffice. Als sie vor wenigen Monaten bei der Firma anfing, hat sie gleich gefragt, ob man auch "nach Corona" von zu Hause aus arbeiten kann. Kann man. Da hilft sie nun, eine Welt zu organisieren, in der das ­Leben für Leute wie Manfred Mahler buchstäblich schwerer wird. "Pakete bis 30 Kilo. Und Sperrgut. Die Leute be­stellen, und die Post bringt es. Einbauschränke, Autofelgen, alles." Was das Shoppen betrifft, ist die Landbevölkerung auch nicht mehr benachteiligt. Kommt alles bis an die Haustür.

Andrea und Andreas Eylmann leben schon immer auf Krautsand. Neu sind die Stelzenhäuser für Feriengäste. Die Islandponys. Und teure Sportwagen

Mit seinem gelben Postauto besuchte Manfred Mahler die weit verstreut liegenden großen Höfe, mit prachtvollem Fachwerk und mit Reet gedeckt. Die Bootswerft am Hafen, 300 Arbeitsplätze und Weltmarktführer für freifallende Rettungsboote. Das schicke Hotel am Deich, das damit wirbt, dass man hier "glücklich stranden" kann. Er klapperte die Einfamilienhäuser in der Ortsmitte ab, das kleine Neubaugebiet, den neuen Hof des Pferdezüchters, den Apfelbauern Dralle. Wenn er dort auf den Hof fuhr, zur Erntezeit, dann rief ihm manchmal Cuma oder einer seiner Cousins vom Apfelbaum aus einen Gruß zu. "Ach", sagt Mahler, "Cuma ist so viele Jahre aus der Türkei nach Krautsand gekommen, jeden Herbst, der gehörte schon zur Familie." Inzwischen kommen andere Leute zum Pflücken.

"Manche Besucher aus der Stadt sind anfangs komplett orientierungslos"

Bei Andrea und Andreas Eylmann laufen einem die Hühner entgegen, voller Hoffnung auf knackige Kerne oder ein bisschen Grünzeug. Das Grundstück der Eylmanns ist ein Traum vom Landleben. Abgelegen, verwinkelt, verhutzelt, hier eine ­Hütte und da eine kuschelige Ferienwohnung. Und viele Tiere, Enten, Gänse, Puter, Schafe.

"Manche Besucher aus der Stadt sind anfangs komplett orientierungslos", sagt Andrea. "Wie ich auf dem Hauptbahnhof in Hamburg. Die lernen hier den Unterschied zwischen Gänsen und Enten." Sie schaut zum Nachbarhaus, reetgedeckt und renoviert, wo gerade ein Trecker auf dem Hof rangiert. Nette Leute wohnen da, sagt sie. Zugezogene aus Dornbusch. Na, das ist jetzt nicht wirklich weit weg, gerade mal drei Kilometer. "Die haben sich das Haus wegen der Pferde gekauft." Die Nachbarn auf der an­deren Seite kommen aus Bielefeld, wo der Mann auch immer noch arbeitet. Arbeitsweg: 300 Kilometer. An deren Einfahrt wirbt ein Schild für "Ferienhaus & Wellness".

"Andrea, hast du mir schon wieder meine Gummistiefel geklaut?" Ehemann Andreas, nach einem Herzinfarkt Frührentner, kümmert sich um die Eltern und die Nachbarschaft und um Haus und Grundstück. Flickt hier, kachelt da ein Badezimmer, richtet ­einen Außenschlafplatz für die Feriengäste ein. Macht es für sich und Andrea auf der Terrasse hübsch. ­Rasen mähen muss er wenig, das meiste erledigen die Schafe, aber die Grundstückspflege kostet trotzdem Zeit. Was die Neuen, die auf die Insel ­ziehen, in alte Häuser, auf große Grundstücke, bestimmt unterschätzen. Und dann gibt es noch nicht mal einen Bäcker. Immerhin erste Hofläden. Und Obst kann man kaufen, an der Straße.

Ami und Jonas Kötz haben vor 26 Jahren einen alten Bauernhof gekauft. Die Kinder sind schon ausgezogen. In der Werkstatt wird geschnitzt und gedruckt, das alte Backhaus vermietet

Andrea kennt das nicht anders. Jahrelang hat sie in diesem Haus ihre Groß­mutter gepflegt, neben dem Job als Verkäuferin im Elektrofachhandel im nächsten Dorf, mit der eigenen Familie hat sie auf 50 Quadratmetern gelebt. Als sie das Haus erbte, waren die zwei Kinder schon groß. Sie war lange in Kurzarbeit, ­Corona-bedingt. Andrea und Andreas kommen zurecht, sie brauchen eh ­wenig. Auch wenig Ablenkung. "Aber jetzt können wir am Strand laufen", sagt Andreas. "Da ist mir sonst zu viel los." Touristen gab’s bis in den ­Sommer nicht, die Tagesausflügler und Gassigeher sind abends wieder weg, dann trifft man fast nur noch andere Krautsander an der Elbe. Inzwischen können die auch wieder Bratwurst und Bier am Imbissstand kaufen, direkt am Strand. Allerdings: Nur von den Krautsandern kann die Inselgastronomie nicht leben.

Den einen auf der Insel wird es längst zu viel, die an­deren hoffen auf Renditen

Manche Gäste, Tausende sogar, lassen sich von Corona überhaupt nicht beeindrucken. Besonders im Frühjahr und im Herbst ziehen sie in riesigen Schwärmen über die ­Insel, nachts schlafen sie auf der ­Elbe, tagsüber fressen sie den Bauern die Viehweiden leer und hinterlassen ­ihren Dreck. Aber wie die Nonnengänse, die Graugänse in breiten ­Pfeilen den Himmel kreuzen, wie sie unter Geschrei vom Ufer aufsteigen, auf den Wiesen niedergehen – das ist ein fantastischer Anblick, die ­Ahnung von einer Existenz in höheren ­Sphären. Auch für die Feriengäste, wenn sie jetzt wiederkommen. Auf Krautsand gab es früher ein großes Gartenlokal, und ein paar Hausbe­sitzer haben damals schon Ferienwohnungen eingerichtet, wenn die Kinder flügge waren. Jetzt entstehen immer mehr, auch Neubauten, ­ganze Anlagen, das "Elbstrand-Resort". Mal ein Ausflug nach Hamburg oder über die Elbe nach Glückstadt, Radfahren am Deich, Laufen am Strand – Kraut­sand ist das neue Sylt. Oder: Möchte es gern werden. Oder: Einige ­möchten, dass es so wird.

Den einen auf der Insel wird es längst zu viel, die an­deren hoffen auf Renditen – aber doch sind alle auf die Touristen angewiesen; auch Andrea und Andreas Eylmann ­brauchen die Einnahmen durch die Ferienwohnung.

Und die Landwirte. Von den großen Hofstellen sind nur noch ein ­knappes Dutzend so ­bewirtschaftet wie früher: Milchvieh, Ochsen, Pferde, Schafe. In einigen wohnen inzwischen wohlhabende Menschen aus Düsseldorf oder Stuttgart, die dort ihre Pferde halten oder ihr Business betreiben. "Santrans Healthcare Service Logistics" steht auf dem Schild an einem der ältesten und schönsten Höfe auf Krautsand. Das Land ist verkauft oder verpachtet. Andere Bauern verkaufen erst ihr Vieh und dann die Güllerechte, auch an Landwirte von außerhalb. Die Düfte machen sich überall auf der Insel bemerkbar. Ein Pferdezüchter hat seinen alten Hof verlassen und einen neuen in der Dorfmitte gebaut – die Auflagen des Landschaftsschutzes für den Außenbereich wurden ihm zu viel. Ein großes Bauernhaus direkt am Deich haben Ami und Jonas Kötz gekauft – sie sind schon vor 24 ­Jahren aus Hamburg nach Krautsand ­ge­zogen, Ami macht Druckgrafik, Fische sind das aktuelle Motiv, Jonas schnitzt Holzmänner.

Jonas Kötz hat auch die Werbung für den Männergesangverein und das Logo für die 400-Jahr-Feier der Insel entworfen, das Jubiläum war 2020, aber alle Veranstaltungen sind ausgefallen. Ebenso wie die Flohmärkte, die sonst zu Verkehrschaos führen, der Hafenball im Januar, die Osterfeuer, eigentlich jedes Remmidemmi am Deich. So still hat die Insel schon lange nicht mehr dagelegen.

"Kinder sieht man da heute kaum noch"

Und bei den Kötzens war das ganze erste Halbjahr "Ruhe­tag". Das Schild haben sie an die Hofauffahrt gehängt, weil einfach zu viele Feriengäste neugierig und ungebeten reinguckten, früher. Dann aber herrschte wirklich Ruhe, und im "Backhaus", das sonst das ganze Jahr vermietet ist, konnte der studierende Sohn mit Freundin überwintern. Die Uni in Essen war ja auch keine Attraktion mehr.

Beatrice Claus (links) möchte, dass es der Rohrdommel und den Gänsen gut geht – aber den Landwirten auch. Der World Wildlife Fund, für den sie arbeitet, und die NABUStiftung haben ein Naturschutzgroßprojekt für die Insel aufgelegt. Regen und Regionalisierung – beides erst mal nicht so schön, findet Pastor Sascha Hintzpeter (rechts). Aber der Landschaft tut’s am Ende gut

Beim Haus der Kötzens am Elbdeich geht es links rein in die Schanzenstraße. Da hat der Postbote Mahler so manchen Radtouristen in die andere Richtung geschickt und ihm acht Kilometer Umweg erspart. Oder mal ein Schulkind einsteigen lassen, damit es nicht von der letzten Bushaltestelle zur letzten Kraut­sander Hofstelle laufen musste. "Kinder sieht man da heute kaum noch", sagt er. "Früher spielten die draußen und bolzten, liefen an den Strand, wo sind die jetzt? Das sind Gedanken, die bewegen einen." Der Altersdurchschnitt auf der Insel: 48 Jahre.

Beatrice Claus wohnt nicht auf der Insel, Krautsand ist ihr Arbeitsplatz. Der World Wildlife Fund (WWF), für den sie unterwegs ist, will hier das Elbeästuar wiederbeleben. Das was? Die Tideelbe ist der Abschnitt des Flusses, wo sich zweimal täglich die Fließrichtung und der Wasserstand ändern. Mit jeder Flut kommt Salzwasser aus der Nordsee. In dieser Süß- und Brackwasserzone wandern seltene Fischarten wie Neunauge und Stichling durch, Wat-, Wasser- und Wiesenvögel brüten am Flachwasser, viele Insekten fühlen sich im Röhricht wohl. Durch Priele und Gräben hat sich die Tide früher auf die ganze Insel ausgewirkt – bis zum Deichbau Ende der siebziger Jahre.

Der WWF und der Naturschutzbund Deutschland (NABU) wollen diesen Einfluss wieder herstellen und fast die ganze Insel in ein Natur­schutz­großprojekt verwandeln. Eine Entwicklung, die die Krautsander spaltet. Andreas Eylmann zum Beispiel sagt: Ist doch gut. Aber andere klagen. ­Beatrice Claus will mit den Landwirten zusammenarbeiten. Die sind unterschiedlich kooperativ. Manche, sagt sie, empfinden das als Zumutung, als Enteignung, wenn sie keine Gülle mehr ausbringen, beim Mähen bestimmte Zeitpunkte einhalten und statt für Milch und Fleisch für "Umweltleistungen" bezahlt werden sollen.

"Die Stadtleute kaufen jeden Resthof, da können die Einheimischen nicht mithalten"

Es wird der Insel ein anderes Gesicht geben, wenn auf den Grün­flächen wieder Kiebitze brüten, wenn das Hochwasser in Gräben und Priele überfließt. Dem Postboten und "Vereinsmenschen" Mahler sind eher die anderen Veränderungen aufgefallen. "Die Stadtleute, die aufs Land ziehen, kaufen jede kleine Kate, jeden Resthof, da können die Einheimischen nicht mithalten. Und das Vereins­leben leidet darunter." Denn die ­Städter ­haben – oder hatten jedenfalls, vor dem Homeoffice – weite ­Arbeitswege, die wollen nicht abends noch eine ­Sitzung mit Tagesordnung über sich ergehen lassen, die wollen, so Mahler, "höchstens noch mit dem Hündchen auf den Deich". Und die jungen ­Leute seien für Schützenvereine sowieso nicht mehr zu begeistern. "Du kriegst keinen mehr hinterm Ofen vor . . ."

Und für den Kirchenvorstand? Der tagt einmal im Monat, natürlich mit Tagesordnung und Protokoll, und damit wäre alles gut – wenn nicht diese Art von Sitzungen für die Hauptamtlichen immer mehr würden. Pastor Sascha Hintzpeter, seit noch nicht einmal einem Jahr zuständig für Kraut­sand, fühlt ein ähnliches Dilemma wie ein Hofbesitzer. "Der alte Bauer würde gern so sein, wie seine ­Enkelin sich ­einen Bauern vorstellt", sagt Hintz­peter, "ein Bilderbuch­bauer, der morgens in den Stall geht und seinen Kühen gemütlich über den ­Rücken streicht. Aber dafür hat er keine Zeit!" Der Bauer muss nach den Milch­preisen gucken, Anträge schreiben, den Markt beobachten – und fest­stellen, dass sich das alles nicht rechnet, wenn er nicht in größeren Einheiten wirtschaftet. Und so, sagt Hintzpeter, geht es seiner Kirche auch. Die Landeskirche muss sparen, der Kirchenkreis muss sparen, Hintzpeter ist mitten im "Regionalisierungsprozess", was nichts anderes heißt, als dass man in größeren Einheiten denken, in größeren Einheiten sparen muss.

Die Containerschifffahrt braucht immer tieferes Fahrwasser – dadurch wird der schöne Strand jedes Jahr ein Stückchen schmaler. Die Elbe aber ist hier ziemlich breit: fast drei Kilometer

Er ist nicht nur Pastor auf Krautsand, sondern auch im größeren Drochtersen, wo der Postbote Mahler im Kirchenvorstand saß. Beide Gemeinden sind miteinander verbunden, die neue Aufgabe heißt jetzt: eine Struktur finden für eine kirchliche Region, die noch fünf bis zehn andere Dörfer umfasst. "Diesen Wandel müssen wir gestalten – denn er kommt ja sowieso." Aber wie, fragt er, soll er die Altenpflegerin im ­Kirchenvorstand und die Apfelbäuerin, ­die auch genug zu tun hat, dazu bringen, sich nicht nur um den renovierungsbedürftigen eigenen Kirchturm zu kümmern, sondern womöglich auch noch um den Wildschaden auf einem Friedhof 30 Kilometer entfernt? "Die ticken doch für die Kirche im Dorf, und zwar in ihrem eigenen!"

Was er sehr gut verstehen kann. Wenn Sascha Hintzpeter, 36, schlank, Pferdeschwanz, vier Kinder, auf Krautsand seine Schäfchen zählt, kommt er auf etwa 300, ein Bruchteil davon lässt sich in der Kirche blicken. Manchmal zehn, manchmal drei. Auf Facebook folgen ihm viel mehr. Der Pastor möchte viel lieber Seel­sorger sein als Strukturwandler, lieber ­Musiker als Regionalisierer, lieber Prediger als Sparfuchs, er mag Saxofon spielen, mit den Konfis biblische Geschichten verfilmen – lieber als in Ausschüssen Konzepte zu ent­wickeln. Die geforderten Einsparungen vor Ort wirksam werden zu lassen, davor graut es Sascha Hintzpeter. Denn: ­eine halbe Pfarrstelle weniger? Oder die Stelle der Küsterin streichen? An den Unterhaltungskosten für die Gebäude sparen? Verfallende Kirchen – nein . . . Die Ehrenamtlichen gucken manchmal so müde, wenn er von ­solchen Sachen spricht.

Aber die Ofenthese von Postbote Mahler, die stimmt nicht. Die Einheimischen, die Kirchengemeinde und die Zugezogenen, sie haben schon längst so etwas wie Parallelstrukturen aufgebaut. Jedenfalls: Man sieht sich, man hört voneinander. Da ist das Sommerfest am Strand zum Ende der Ferien. Da sind die "Inselnachrichten", die der Mann der Küsterin seit ­Jahren regelmäßig verschickt, aktuell an 225 Abonnenten, da erfahren die Nachbarn – und auch die erwachsenen Kinder in der ganzen Welt, Studierende in Essen, Offiziersanwärter auf dem Kreuzfahrtschiff, die Vertriebsmanagerin in Hue – wem die Katze weggelaufen ist, wann die "Island Monkeys" wieder in der Krautsander Kirche spielen und wann man sich im Dorfgemeinschaftshaus trifft, um fürs große Erntedankfest zu planen. "Da kann sich jeder integrieren", sagt Thessa Laurus. Sie selbst freut sich besonders, wenn die Kinder der "alten" Krautsander aufkreuzen. Einige von denen, die jetzt noch in aller Welt unterwegs sind oder tolle Jobs in Hamburg haben, wollen in absehbarer Zeit richtig zurück auf die Insel. Beim Sommerfest werden sie wieder "rumspinnen" – sagt ­Thessa: vom Co-Working-Space, den sie herrichten will in ihrem Haus.

Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff

Anne Buhrfeind

Anne Buhrfeind ist auf Krautsand aufgewachsen. Sie kann sich nicht sattsehen an den Gänseschwärmen, ­besonders im Winter und im Frühjahr. Die gab es in ihrer ­Kindheit nicht.
Philipp Meuser

Roman Pawlowski

Roman Pawlowski, Foto­graf, war ­Krautsand kein ­Begriff. Aber jetzt. Nur 70 Kilometer von Hamburg ­entfernt, kam ihm der Job an der Elbe vor wie eine Reise in ein anderes Land.

Bei Thessas Verwandten ­haben sich gerade wieder Leute gemeldet, die sich einfädeln wollen in die Inselgemeinschaft, Hamburger, die ein Haus auf Krautsand gekauft haben.

Die machen das richtig, diese Hamburger, erklärt Manfred Mahler. Man muss zu den Nachbarn gehen und ­sagen: "Wir sind die Neuen." Und er findet auch, dass die Alteingesesse­nen genauso gut mal den ersten Schritt machen können. Abwarten? Nee. Drauflosgehen. Versucht aber nicht jeder, lieber bleibt man auf dem Sofa sitzen, verschränkt die Arme und ärgert sich. "Das ist manchmal so auf dem Land. Aber das kann man besser machen." Denn man tau!

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Sehr geehrte Damen und Herren,
bitte richten Sie dem Fotografen, Roman Pawlowski, der die Bilder zu diesem Artikel gemacht hat, mein ganz großes Lob aus. Sie sind mir beim Durchblättern sofort aufgefallen. Wie natürlich und locker sich die Menschen von ihm haben ablichten lassen- wunderbar. Sei es der Bauer, der lässig auf seinem Traktor sitzt, der Pfarrer mit dem Regenbogenschirm vorm Kirchlein oder "die Neuen auf Krautsand" zu Beginn auf Seite 8.
Ich nehme an, der chice silbergraue Flitzer ist auch extra so auf der grünen Wiese geparkt worden, dass man sich seine eigene Interpretation zurechtlegen kann.
Aber auch Anne Buhrfeind, die den Artikel mit so viel Lebendigkeit und Herzenswärme verfasst hat, gebührt ein großes Lob. Insgesamt eine runde Sache! So klasse!
Almuth Orth Wilke

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Sehr geehrte Damen und Herren,
mal wieder ein chrismon mit vielen lesenswerten Beiträgen. Dazu gehöt auch der Beitrag über das Leben auf Krautsand. Nur die Holzbrücke über die Süderelbe irritierte mich. Natürlich ist die Wischhafener Süderelbe gemeint, die alle Einheimischen nur Süderelbe nennen. Für Ortsunkundige Leser liegt die "richtige" Süderelbe aber deutlich weiter elbeaufwärts.
nichts für ungut,
mit freundlichen Grüßen
Jürgen Fielitz

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Sehr geehrte Damen und Herren,
für o.g. Artikel danke ich Ihnen sehr. Er ist wirklich gut - ich bin ein Landkind (werde es immer bleiben), und immer auf der Suche nach einem Dorf, das dem am nächsten kommt, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Bislang habe ich noch keines gefunden. Aber ich habe ein 8.000 + -Einwohnerdorf gegen eines mit 1.100 Seelen getauscht - und bin immer noch froh über diesen Schritt.
Wenn ich in meine alte Heimat, in den Inbegriff eines Bauerndorfes, fahre, stelle ich fest, dass die Zeit dort auch nicht stehengeblieben ist. Die Spielkameraden von damals gehen auf die Rente zu, man bemängelt das nicht vorhandene „schnelle“ Internet (trotz Versprechen von staatlicher Seite), die meisten Bauern haben ihre Höfe stillgelegt und die Ställe zu Mietwohnungen umgebaut, es gibt mehr Zugezogene aus Berlin und sogar aus den USA. Die Häuser wurden bunt verputzt, die Einheimischen in unserem Alter sprechen Hochdeutsch mit starkem unterfränkischen Akzent, und es gibt ein kirchliches Gemeindeleben. Auf dem Friedhof gibt es nicht mehr so viele Gräber wie in meiner Kindheit und Jugend. Mit dem Hund geht man in einem ehemaligen Bauerndorf, wo noch jeder seinen (stillgelegten) Hof mit Garten bewohnt, nicht spazieren.
Was ist geblieben? Nach einigen Besuchen in meiner (geliebten) unterfränkischen Heimat stellte ich fest, dass Heimat sich verändert, aber sie für mich mit all den Erinnerungen an früher noch präsent ist und es guttut, gelegentlich dort ein- und für ein paar Tage abzutauchen.
Ich genieße nach wie vor die Stille in „meinem“ Dorf, gehe die Wege von einst und besuche bei dieser Gelegenheit immer die Gleichberge drüben in Thüringen, die mich durch Kindheit und Jugend immer still begleitet haben. Beim letzten Spaziergang (mit Hund) durch den wunderschönen Buchenwald (nirgends gibt es so schöne und hohe Buchen mit hellgrauem Stamm) schließt sich der Kreis für mich: bin ich daheim im Rheinland, bin ich einen Fingerbreit von meiner Kindheit in Unterfranken entfernt, und wenn ich meine Gleichberge besuche, frage ich mich, wo ich eigentlich jetzt genau bin.

Meine Tochter, die auch nur auf dem Dorf aufgewachsen ist, fühlt sich hingegen nicht als Landkind und würde nie und nimmer in ein „Kuhdorf“ ziehen. Vom erquickenden Landleben kann ich sie nicht überzeugen.

Bringen Sie bitte mehr solcher Artikel, besonders aus Norddeutschland, da stellt sich bei mir immer
Fernweh ein.
Freundliche Grüße
E. Wallenfang

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